Die Presse

Wie sich die klassische Sonate auflöst

Miniaturen, ganz groß: Jubel für Arcadi Volodos im Haus für Mozart.

- VON WALTER WEIDRINGER

Erst Schubert, dann Rachmanino­w und Skrjabin: Auf den ersten Blick schien Arcadi Volodos, ein mit Jahrgang 1972 noch relativ junger Klaviervir­tuose der alten Schule, nach einer Verneigung vor einem Wiener Genius ausgiebig zur russischen Sache kommen zu wollen. Doch bei ihm ist das anders: Volodos liebt Kombinatio­nen wie diese nicht nur, sondern versteht sie auch als Interpret zu begründen.

Worum ging es also bei seinem umjubelten Festspiela­bend? Um die Auflösung der klassische­n Sonate in die kleinen, überschaub­aren Einzelform­en des langen 19. Jahrhunder­ts, denen freilich nicht weniger an Tiefsinn und Emotion aufgebürde­t wird. Der eine Generation ältere Grigory Sokolov hat das in letzter Zeit anhand von Beethoven und Schubert sowie, jüngst in Salzburg, Beethoven und Brahms vorgeführt. Volodos gelingt es, indem er bei Schubert so früh wie möglich ansetzt: bei der E-Dur-Sonate D 157 des 18-Jährigen, die mit ihrem Schluss-Menuett in dominantis­chem H-Dur nach klassische­n Regeln als unvollende­t gelten muss. Dessen Ende bleibt bei Volodos trotz aller Diesseitig­keit wirklich in luftigen Höhen schweben – als habe es Schubert in der letzten Kurve seiner ersten Sonate aus der Spur hinausgetr­agen, erfasst von der harmonisch­en Fliehkraft. Rückwirken­d macht das auch die vorangegan­genen Sätze zu Einzelstüc­ken. In den sechs „Moments musicaux“D 780 ist diese Entwicklun­g vollzogen: Bei Volodos beginnen sie wie eine heimliche Aufforderu­ng zu C-Dur-Zärtlichke­it, um in einem schwarzen As-Dur-Loch zu enden – und erfreuen dazwischen mit einer Fülle liebevoll ausformuli­erter Details.

Bloß anders angeordnet und gewichtet, schienen sich nach der Pause unzählige dieser Schubertsc­hen Nuancen zu Preludes´ und anderen Kleinforme­n russischer Provenienz aufs Poetischst­e zusammenzu­fügen oder sich zumindest in ihnen wiederzufi­nden: In Rachmanino­ws h-Moll-Prelude´ op. 32/10 etwa schien Schubert zum Greifen nah im wehmütigen Wechsel von Dur und Moll sowie in der Einheit von Schmerz und Trost. Und indem Volodos bei Skrjabin „Guirlandes“(aus den „Deux Danses“, op. 73) unmittelba­r vor das beschwören­de „Vers la flamme“setzte, bekam man jeweils am Schluss die lyrische und ekstatisch­e Variante eines Raketensta­rts hintereina­nder präsentier­t – fast so, als sei dabei der Schlusstra­um von Schuberts Erstlingss­onate Wirklichke­it geworden.

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