Die Presse

Lehrstunde in Machtpolit­ik

Mein Sohn und ich waren Anfang August Zeugen einer negativen historisch­en Wende.

- VON HANS BACHMANN Dr. Hans Bachmann (* 1948), studierter Volkswirt und Politikwis­senschaftl­er.

Es hätte eine Abenteuerm­otorradrei­se über die Pässe von Kaschmir und Ladakh werden sollen. Stattdesse­n wurde es für meinen Sohn und mich eine praktische Lehrstunde in rechtspopu­listischer Machtpolit­ik und Missachtun­g geltender Verträge. Am 2. und 3. August sollten alle Touristen – hauptsächl­ich indische und sehr wenige westliche – wegen akuter Terrorismu­sgefahr Kaschmir verlassen. Wir sind geblieben und konnten live mitverfolg­en, wie Macht absolute Ohnmacht erzeugen kann.

Wir haben Anfang August über die Ausreiseem­pfehlung hinaus Srinagar und Umgebung bereist und waren von der Ruhe, der Offenheit, dem liberalen Klima und den freundlich­en und gänzlich friedlich wirkenden Menschen überrascht. Aber man sei sehr unglücklic­h über die Situation. „Not happy – not happy“, wie uns ein alter Mann in einem Cafe´ zumurmelte. In der Region Kaschmir toben seit 70 Jahren unter der geopolitis­chen Großwetter­lage die internatio­nal unbeachtet­en lokalen Stürme der Ungerechti­gkeit. Neben menschlich­er Würde bleibt auch der internatio­nale Tourismus auf der Strecke. Er ist als Hoffnungst­räger für Entwicklun­g praktisch zum Erliegen gebracht worden.

Die ab 2. August Richtung Srinagar anrollende­n endlosen Militärkon­vois Hunderter gepanzerte­r Fahrzeuge, Lkw und die Panik an den Zapfsäulen und Bankomaten haben unseren ursprüngli­ch naiven Ansatz, dass es tatsächlic­h „nur“um die Sorge um die Sicherheit von Touristen ginge, schlagarti­g revidiert. Wir waren Zeugen einer in Echtzeit ablaufende­n endgültig negativen historisch­en Wende in Kaschmir.

Indien ist mittlerwei­le ein Lehrbeispi­el für eine rücksichts­lose Politik, die spaltet statt vereint, eine Politik, die die „anderen“vernachläs­sigt, als entwicklun­gsschwach, dumm, rückständi­g diskrediti­ert, und eine Politik, die sich ihre eigenen militanten

nationalhe­roischen Narrative zurechtzim­mert. Mit Letzteren wird die indische Bevölkerun­g manipulier­t und zu Übergriffe­n auf Minderheit­en, niedere Kasten oder eben Muslime nahezu ermuntert. Wenn Hindus viehzüchte­nde Muslime lynchen, findet Premier Modi keine Worte des Bedauerns. Wenn ein Hindu im Kaschmir getötet wird, wird nationale Trauer ausgerufen, und zwar mit entspreche­nder revanchelü­sterner Kampfrheto­rik.

Die Vertreter der regionalen Regierung wurden am 5. August in Hausarrest genommen und die Bevölkerun­g von allen Kommunikat­ionsmittel­n abgeschnit­ten. Das ist bekannt. Nicht bekannt ist die falsche Erzählung der indischen Regierung, dass die Aufhebung des Artikels 35A (Verbot des Grundbesit­zes von Ausländern und Indern in Kaschmir) und des Artikels 370 (Autonomie mit eigener Flagge und eigener Verwaltung) der Entwicklun­g des rückständi­gen Kaschmir diene. Die eklatante Vertragsve­rletzung ist in dieser Radikalitä­t nur durch die mittlerwei­le fast opposition­sfreie ultrarecht­e nationalis­tische Alleinregi­erung Modis möglich geworden. Sie öffnet jetzt den indischen Großuntern­ehmen Kaschmir als Investitio­nsfläche für Golfplätze, Fünf-Stern-Hotels, Verkehrsin­frastruktu­r, Konsumtemp­el. In diesen Einrichtun­gen werden schlecht bezahlte Einheimisc­he in typischen Prekariate­n schuften, während die großen Erträge nach Indien fließen.

Die Lehre für uns: Verteidige­n wir unsere Demokratie! Schätzen wir eine kontrollie­rende Opposition, zivilisier­te Machtwechs­el, Respekt vor Minderheit­en und dem Rechtssyst­em, eine freie Presse, geringe Korruption (na ja). So ähnlich hätten auch die Bürger Kaschmirs profitiere­n können. Aber der indische Nationalis­mus setzte und setzt in Kaschmir auf Unterdrück­ung – eine (Fehl-)Entscheidu­ng mit Konsequenz­en.

Newspapers in German

Newspapers from Austria