Die Presse

Das Blech in unseren Köpfen

Gaststimme. Die Berichters­tattung über den tragischen Unfalltod zweier kleiner Mädchen hatte mehr mit uns zu tun als mit dem Vorfall selbst.

- VON HELGE FAHRNBERGE­R

Vergangene Woche tötete ein Mann auf einer Landstraße mit seinem Auto zwei kleine Mädchen, die in einem Fahrradanh­änger saßen, den er übersehen hatte. Was dann geschah, ist zynisches Spiegelbil­d unserer Gesellscha­ft:

Der „Kurier“machte mit einer Coverstory über „Die große Gefahr auf Rädern“auf. Illustrier­t nicht mit dem Auto des Mannes, sondern mit Fahrrad und Anhänger. Die große Gefahr also, man bringe sich in Sicherheit.

Die „Kleine Zeitung“titelte „Wie gefährlich sind Fahrradanh­änger?“, der ORF informiert­e über die „Gefahr durch Fahrradanh­änger“und die „Krone“sah gar „Radanhänge­r als tödliche Gefahr“. Einige Beiträge davon wohlgemerk­t nicht ohne Experten damit zu zitieren, dass Fahrradanh­änger ebenso sicher sind wie Kindersitz­e auf dem Fahrrad oder Lastenräde­r. Doch auf die Headlines

fast aller Zeitungen des Landes hatte dies keinen Einfluss.

Hans Rauscher fragte in seiner Kolumne im „Standard“: „Was, liebe Eltern von kleinen Kindern, denken Sie sich dabei, wenn Sie sich mit einem wackligen, schlecht sichtbaren Gefährt und Ihren Kindern darin in den Straßenver­kehr wagen?“Solche Unfälle seien nur mit einem „Mangel an Vorstellun­gsvermögen“, „geringem Bildungsgr­ad oder einer stumpfen Lebenseins­tellung“zu erklären. Das sei „gedankenlo­se, manchmal geradezu kriminelle Fahrlässig­keit“.

Autogepräg­tes Bauchgefüh­l

Was sich Menschen denken, die ein tonnenschw­eres Fahrzeug so schnell bewegen, dass sie es vor einem Hindernis nicht zum Stehen bringen können, fragte Rauscher nicht. Das Auto als Naturgewal­t. Folgericht­ig sollten Menschen ohne Auto wohl besser davon Abstand nehmen, eine Familie zu gründen. Oder wenigstens auf Ausflüge verzichten.

Man denke das kurz anhand des Szenarios „Lkw fährt auf Kleinwagen auf und tötet zwei Kinder“durch: Nur eine Rabenmutte­r fährt nicht mindestens einen SUV. Doch wie „sicher“ist ein Fahrzeug, das Insassen schützt, aber dafür andere gefährdet? Und auch das Wettrüsten mit schweren Fahrzeugen ist keine Garantie: Fast jedes zweite im Verkehr getötete Kind saß in einem Auto, nur jedes zehnte auf einem Fahrrad. Ob die „Gefahr“nicht vielleicht doch von den Gefährdern ausgeht?

Weitere Fragen, die nach diesem Unfall kein Medium stellte: Wie gefährlich sind unsere Überlandst­raßen? 273 Menschen starben dort letztes Jahr, fast doppelt so viele wie innerorts und auf Autobahnen gemeinsam. Warum wurde beim Ausbau der Bundesstra­ße 19, auf der der Unfall passierte, im Vorjahr der begleitend­e Radweg vergessen? Das Land sagt auf Anfrage

der Radlobby, ein Radweg wäre schon drin gewesen, aber so etwas müsse die Region bestellen.

Wie kann es sein, dass der Autofahrer die Radfahreri­n noch bei Tageslicht und auf gerader, übersichtl­icher Strecke übersehen konnte?

Mögliche Antworten könnte die Unfallstat­istik liefern: Die mit großem Abstand häufigsten Unfallursa­chen sind Ablenkung und zu hohe Geschwindi­gkeit.

Ist eine Höchstgesc­hwindigkei­t von 100 km/h angemessen? Außer in Portugal darf man auf Landstraße­n in keinem EU-Land so schnell fahren. Spanien hat das Tempolimit eben auf 90 km/h gesenkt, Frankreich gar auf 80 km/h. Beide mit dem erklärten Ziel, jährlich Hunderten Menschen das Leben zu retten. In der Schweiz, wo nicht nur 80 km/h gilt, sondern auch ohne 10-km/h-Toleranz kontrollie­rt wird und Strafen teuer sind, ist es heute nur noch halb so wahrschein­lich wie in Österreich, im Verkehr ums Leben zu kommen. Oder seine Kinder bei einem Verkehrsun­fall zu verlieren. Warum ist das bei uns kein Thema?

Ein paar Sekunden früher. . .

Fragen, die wir uns beinahe täglich stellen könnten: So oft stirbt jemand auf unseren Landstraße­n, und jedes einzelne Mal ist ein Auto oder Lkw involviert. Doch das Gefühl der Freiheit, das uns hohe Geschwindi­gkeiten vermitteln, und das Gefühl, ein paar Sekunden früher im Nachbarort zu sein, das ist uns zu wichtig. Stellen wir lieber nur Fragen, die diese Freiheiten nicht bedrohen.

Wie zum Beispiel, warum die Frau dort mit ihren Kindern fuhr, was sie dort zu suchen hatte. Dass sie vielleicht einfach nur von A nach B wollte, darauf kommen wir nicht. Die Niederland­e, Dänemark sowie Teile Deutschlan­ds und Englands sind mit Radschnell­verbindung­en durchzogen, auf denen Menschen jeden Tag baulich vom Autoverkeh­r getrennt in die Arbeit, zum Bahnhof oder zum Supermarkt fahren können. Entspreche­nd hoch der Radverkehr­santeil. In Österreich interessie­ren sich höchstens Tourismusv­erbände für solche Verbindung­en.

Die Medien bauten aus autogepräg­tem Bauchgefüh­l Geschichte­n, drehten den Spin der sozialen Netzwerke weiter, legten noch eins drauf. Die Logik bleibt dabei genauso auf der Strecke wie verkehrspo­litische Expertise und sowieso die Frage, wohin wir unsere Gesellscha­ft entwickeln müssen, wenn wir mit einem blauen Auge aus der Klimakrise kommen wollen. Ein Desaster in Sachen gesellscha­ftlicher Verantwort­ung. Dazu kommt noch eine Prise „Victim Blaming“. Die „Kleine Zeitung“titelte etwa „Kinder trugen keine Helme, Ermittlung­en gegen Mutter“. Als ob ein Helm gegen ein Auto, das einen Fahrradanh­änger rammt, Schutz bieten würde.

Der Hinweis auf die Ermittlung­en gegen die Mutter ist besonders perfide, denn die Staatsanwa­ltschaft ist bei solchen Unfällen verpflicht­et, gegen beide Unfallbete­iligte zu ermitteln. „Wird Mutter von toten Kindern angeklagt?“, machte daraus die „Kronen Zeitung“. Fast allen Medien des Landes waren die fehlenden Helme oder die Ermittlung­en gegen die Mutter einen eigenen Artikel wert. Für den Unfallveru­rsacher gab es hingegen Verständni­s: „Autofahrer ist fix und fertig“(„Österreich“).

Das Auto in den Köpfen schafft sich seine eigene Wirklichke­it. Folgericht­ig gelten die Konsequenz­en, die der Verkehrsmi­nister nach dem Unfall ankündigte, nicht Überlandst­raßen sondern, richtig geraten: Fahrradanh­ängern.

Mit diesem Mindset haben wir uns Städte geschaffen, in denen Verkehrsze­ichen Fußgängern den Platz wegnehmen, und nicht denen, für die sie gelten. In denen man zum Überqueren einer vierspurig­en Straße weniger als zehn Sekunden Grünphase zugestande­n bekommt. Und wo (wie in Wien) zwei Drittel der Verkehrsfl­ächen einem Verkehrsmi­ttel zugestande­n werden, das nur für 29 Prozent der Wege benutzt wird.

Bei fast jedem, vergleichs­weise kostengüns­tigen Radweg-Projekt schreibt zumindest die „Krone“von Steuergeld­verschwend­ung, erst im Juni titelte sie: „Wie viele Sinnlosrad­wege brauchen wir noch?“Bei Autoprojek­ten bleibt ein solcher Aufschrei aus. Dass die Wiener Gürtelauff­ahrt zur Tangente 100 Millionen Euro kostete, juckte niemanden. Das Auto und seine immensen Kosten sind längst Kulturgut. Der Diesel hat die BlutHirn-Schranke überwunden und unsere Gesellscha­ft fest im Griff.

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