Kanadas Premier stürzt in Krise
Analyse. Justin Trudeau war einst Kanadas Politikstar. Jetzt verliert er an Strahlkraft. Denn der Ethikbeauftragte wirft ihm vor, Druck auf die Ex-Justizministerin ausgeübt zu haben.
Ottawa. Zwei Monate vor der Parlamentswahl wird Kanadas Premierminister Justin Trudeau von der größten Krise seiner vierjährigen Amtszeit eingeholt. Der Ethikbeauftragte des Parlaments wirft dem liberalen Regierungschef vor, unzulässig Druck auf dessen frühere Justizministerin Jody Wilson-Raybould ausgeübt und versucht zu haben, ein Strafverfahren gegen den Konzern SNC-Lavalin zu beeinflussen. Für die Wahl am 21. Oktober verheißt dies für Trudeau nichts Gutes.
In den vergangenen Monaten hatte sich Trudeau mühsam aus dem Umfragetief herausarbeiten können, in das er im Frühjahr durch die SNC-Lavalin-Affäre gefallen war. Nun droht ihm ein erheblicher Rückschlag. Das jetzige Verdikt des Ethikbeauftragten Mario Dion kommt für Trudeau zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Meinungsumfragen sehen seine Liberalen und die Konservativen von Andrew Scheer gleichauf, nachdem Scheer zeitweise sogar in Führung gelegen hat. Der Ethikbericht gibt der Opposition neue Munition.
Trudeau übernahm bei einem Besuch in Niagara-on-the-Lake Verantwortung für „Fehler, die ich machte“und „volle Verantwortung für alles was passierte“. Er akzeptiert zwar den Bericht Dions, hält ihn in wichtigen Punkten aber für überzogen. Er lehnte es auch ab, sich zu entschuldigen. „Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mich für Arbeitsplätze einsetze.“
Denn der Regierungschef begründet sein Engagement in dem Ermittlungsverfahren mit der Sorge um Arbeitsplätze bei SNCLavalin in seiner Heimatprovinz Quebec. In der Affäre geht es um ein Bestechungsverfahren gegen den Baukonzern. SNC-Lavalin wird vorgeworfen, zwischen 2001 und 2011 für Aufträge in Libyen Beamte und Mitglieder der Familie des Ex-Diktators Muammar al-Gaddafi bestochen zu haben. Im Falle einer Verurteilung droht dem Unternehmen der Ausschluss von Regierungsaufträgen in Kanada, was Arbeitsplätze kosten könnte.
Daher versuchten Trudeau und hochrangige Mitarbeiter im Herbst 2018 letztendlich vergeblich, Justizministerin Wilson-Raybould zu bewegen, eine außergerichtliche Einigung mit SNC-Lavalin anzustreben, um ein Strafverfahren zu vermeiden.
Das lehnte die Ministerin ab. Sie stützte die Entscheidung der leitenden Staatsanwältin, keine außergerichtliche Einigung anzustreben. Im Jänner 2019 wurde sie bei einer Kabinettsumbildung in das Veteranenministerium versetzt, einen Monat später erklärte die ehemalige Star-Ministerin ihren Rückzug aus dem Kabinett. Ex-Gesundheitsministerin Jane Philpott folgte ihr aus Solidarität. Im Zuge der Affäre, die die Regierung erschütterte, traten auch Trudeaus Berater Gerald Butts und der höchste Beamte Kanadas, Michael Wernick, zurück. In Meinungsumfragen verlor Trudeau drastisch an Boden.
In den vergangenen Monaten aber schienen die Erinnerung an SNC-Lavalin zu verblassen und Politikthemen wie Klimaschutz und Wirtschaftspolitik in den Vordergrund zu treten, wo Trudeau punkten will.
„Wahlpolitische Erwägungen“
Dion wirft Trudeau nun vor, er habe gegen das Gesetz zur Vermeidung von Interessenkonflikten verstoßen. Das untersagt Amtsträgern, außerhalb ihres direkten Zuständigkeitsbereichs Verfahren zu beeinflussen, die wirtschaftlichen Interessen Privater, also auch von Unternehmen, dienen. Der Ethikbeauftragte hält Trudeau vor, er habe direkt oder durch seine Beamten Einfluss auf die Entscheidung der Ministerin nehmen und damit die Entscheidung der Staatsanwältin umgehen, unterminieren und diskreditieren wollen. In den Gesprächen seien auch „unsachgemäß“wahlpolitische Erwägungen vorgetragen worden, was Prinzipien über die Unabhängigkeit der Strafverfolgung und den Vorrang des Rechts widerspreche.
Die Opposition verschärfte sofort ihre Attacken auf Trudeau. Der Premier habe Ethikrecht verletzt, den Interessen seiner Freunde in der Wirtschaft dienen wollen und das Vertrauen der Kanadier missbraucht, sagte der sozialdemokratische Parteichef Jagmeet Singh. Trudeaus Gegenspieler Andrew Scheer sagte, die Kanadier hätten in wenigen Wochen die Wahl zwischen einem Premier, „der seine Macht missbraucht und das Recht für seine Freunde beugt“und einer konservativen Regierung, die von einem Premier geführt werde, der den Vorrang des Rechts achte und Respekt vor den demokratischen Institutionen habe.
Urlaub auf Insel von Karim Aga Khan
Dass SNC-Lavalin in der Vergangenheit illegaler Parteispenden an die Liberalen schuldig gesprochen wurde, macht den Fall zusätzlich problematisch. Hinzu kommt, dass Trudeau zum zweiten Mal der Bruch von Ethikregeln vorgehalten werden kann. Im Dezember 2017 hatte die frühere Ethikbeauftragte festgestellt, dass Trudeau 2016 mit einem Familienurlaub auf einer Bahama-Insel, die Karim Aga Khan, dem Oberhaupt der Glaubensgemeinschaft der Ismailiten, gehört, die Regeln zur Verhinderung von Interessenkonflikten verletzt hat. Der Aga Khan, ein Freund von Trudeaus Vater Pierre Trudeau, ist Gründer von politischen Stiftungen und Instituten, die in Kanada tätig sind und von der Regierung unterstützt werden.
Für Justin Trudeau, der angetreten war, einen neuen Politikstil der Transparenz und Ethik zu pflegen, sind die Urteile sehr unangenehm. Seine Strahlkraft ist deutlich verblasst. Die Probleme für Trudeau könnten noch größer werden, sollte die Bundespolizei RCMP der Aufforderung der Konservativen folgen, wegen SNC-Lavalin Ermittlungen gegen den Regierungschef einzuleiten.
Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, dass ich mich für Arbeitsplätze einsetze. Kanadas Premier Justin Trudeau