Der Sieg der Theatralik über die Metaphysik
Salzburg. In memoriam Herbert von Karajan inszenierte Riccardo Muti im Großen Festspielhaus das Verdi-Requiem.
Das Stück sei eine Oper für den Konzertsaal, heißt es immer. Andererseits steht Verdis Requiem ja doch in einer Linie mit bedeutenden barocken und klassischen Vertonungen, wenn die Schrecknisse des Jüngsten Gerichts in Klängen gemalt werden, drastisch, wie es die alten Meister in Bildern getan haben.
Die Salzburger Festspiele widmeten die Aufführungen von Verdis Totenmesse heuer ihrem langjährigen Spiritus rector Herbert von Karajan zum 30. Sterbetag. Keiner hat dieses Werk so oft im Rahmen des Festivals dirigiert wie er. Und seine Aufführungen ermangelten jedenfalls nie eines tiefen spirituellen Aspekts. Metaphysik schwang mit in stillem Gebet wie im apokalyptischen Aufruhr. Von beidem lässt Verdi singen, doch wie man in seiner Musik jenen besinnlich-tiefen Unterton mitschwingen lassen kann, das blieb Karajans Geheimnis.
Riccardo Muti, dem Karajan einst wichtige Festspielaufgaben anvertraute, versteht sich zuallererst offenbar doch als Theatermann. So kann er bei Verdi ja niemals falsch liegen. Dramatischer Effekt bleibt jedenfalls nicht aus, wenn Übergänge und Nahtstellen mit betonten Verzögerungen markiert werden. Muti agiert, bringen wir den Vergleich zu Ende, vielleicht weniger als Dirigent denn als Regisseur der Partitur. Das wirkt, denn Muti kennt seinen Verdi. Er weiß, dass es am Anfang des Werks nicht darum geht, Klänge nach und nach
aus der Unhörbarkeit aufsteigen zu lassen. Wenn der Komponist das gewollt hätte, hätte er es hingeschrieben. Vom Nichts ist aber erst später die Rede, wenn die Solostimmen längst eingesetzt haben und die gehauchten, aber eben durchwegs hörbaren Piano-Klänge von Chor und Orchester mit Theaterrampen-Aplomb hinwegfegen.
Klänge der Angst und der Erlösung
Eine veritable Don-Carlos-Besetzung war diesmal aufgeboten, mit Francesco Meli in der Titelpartie. Er müht sich redlich, wo es gar nicht anders geht, die nötigen behutsamen Töne zu produzieren. Sie kosten ihn viel Anstrengung und reichlich Beimengung von Kopfstimme. Wo aber heroische Crescendi, sichere Spitzentöne gefragt sind, da steht der Tenor seinen Mann.
Erstaunlich erfolgreich beim Flüstern zwischendrin war Ildar Abdrazakov. Er lockerte auf diese Weise die Beschwörungen menschlicher Todesfurcht auf, die ihm in unserem imaginären Stück (gar nicht unpassend) eher die Rolle des Großinquisitors denn die des Königs Philipp zuwiesen – diesen wird er in Salzburg erst zu Ostern 2020 unter Thielemann singen . . .
Demgemäß wäre dann dem gewaltigen Mezzo Anita Rachvelishvilis die Prinzessin Eboli zugefallen. Und wirklich war es, als ob sie ihrem „nil inultum remanebit“ein hoffnungsvoll kraftstrotzendes „un d`ı mi resta“hätte hinzufügen können; angesichts des jüngsten Gerichts ein unfrommer Wunsch.
Es bleibt kein Tag des Aufschubs. Krassimira Stoyanova und der Staatsopernchor ließen es uns begreifen, als sie im abschließenden „Libera me“um Erlösung flehten. Da herrschte atemlose Stille im Festspielhaus, Verstörung vielleicht ob der bangen eschatologischen Frage des Agnostikers Verdi. Einen Schimmer tröstlicher Ahnung hatte die Stoyanova uns zuvor freilich vermittelt, als sie mit einem wahrhaft himmlischen Atemzug ihres samtenen Soprans den Erzengel Michael einherschweben ließ.
Im Übrigen obwaltete Muti und verschmolz Philharmoniker und Chor, die ihm (von kleinen Irritationen abgesehen) eines Sinnes folgten, zum fünften Solisten der Matinee zu Mariä Himmelfahrt. Nicht alles war also Theater, wenn auch weidlich weltlicher Überschwang den Ausführenden dankte.