Ein Monat in Kalkutta
Ausgemergelte, immerzu nasse, hustende Wasserträger. Gelbe Hühnerkrallen, in einer Pfanne mit Öl und Knoblauch brutzelnd. Der erste – und wohl auch letzte – Diener meines Lebens. Ein Monat in Kalkutta: Tagebuch-Notizen.
Tagebuchnotizen aus Josef Winklers indischem Tintenfass.
So spähen wir, getröstet von der Wärme, genauer aus nach den armen Verstorbenen, die da verbrennen, ohne irgendjemanden zu belästigen. Nie, nirgends und zu keiner Stunde, in keinem Akt unseres ganzen indischen Aufenthaltes haben wir ein so tiefes Gefühl der Gemeinsamkeit, der Ruhe und, beinahe, der Freude empfunden. Pier Paolo Pasolini, „Der Atem Indiens“
Abfahrt. Mutter hat geweint. Auch ich weinte zu Hause. Die Jungs empfingen mich lauthals am Bahnhof . . . Ich hatte kein Reisefieber. Doch seit einigen Tagen tut es mir wirklich leid, dass ich abreisen muss“, schreibt im November 1928 der 22-jährige zukünftig berühmte Religionswissenschaftler und Schriftsteller Mircea Eliade als erste Notiz in sein „Indisches Tagebuch, Reisenotizen 1928–1931“.
Es ist mittlerweile elf Jahre her, ich hatte versprochen, für einen Monat nach Indien zu kommen. Eingeladen hatte mich das Goethe-Institut im Jahre 2007, als auf der Frankfurter Buchmesse der Schwerpunkt „Indien“angesagt war. Sechs Schriftsteller aus dem deutschen Sprachraum wurden in verschiedene Städte nach Indien, sechs indische Schriftsteller wurden nach Deutschland eingeladen.
Zuerst schlug man mir Pune vor, ich wollte aber unbedingt ins mir damals noch völlig unbekannte Kalkutta. Als es dann so weit war, tat es auch mir leid, abzureisen und einen Monat lang wegzubleiben von den Kindern, Siri war erst vier Jahre, Kasimir elf Jahre alt, aber es war zu spät. Das Flugzeug der British Airways von London nach Kalkutta hatte bereits abgehoben. Ich war
auch verzweifelt und wütend, weil ich meinen parfumlosen französischen Rasierschaum, den ich in meinem Handgepäck hatte, in London abgeben musste, mir graute vor anderen, auf meiner Gesichtshaut brennenden, parfümierten Rasiermitteln. In meiner Verzweiflung überlegte ich mir, ob ich einer Stewardess in ihren dicken Oberarm beißen sollte, damit man das Flugzeug stoppt und mich abführt, ins Leben zurückbringt, wie ich in diesem Augenblick glaubte, aber ich wollte kein Aufsehen erregen und begann, zurückgefallen in eine Kindheitsangst, mit leisem, weinerlichem Kichern, gleichzeitig süffisantem Lächeln und mir selber in den Daumen beißend, das erbarmungswürdige Schutzengelmein zu beten, „. . . lass mich dir empfohlen sein, steh in jeder Not mir bei . . .“– „Nein, mein Gott ist Jahwe. Ich kenne ihn nicht und möchte nicht, dass er mich kennt. Er ist nachtragend und vergibt erst am Jüngsten Tag. Er zeigt sich mir nicht, weil er mich vernichten würde“, steht im „Indischen Tagebuch“von Mircea Eliade. Angekommen in Kalkutta, wurde ich in einem Restaurant zu einem luxuriösen Abendessen für einen indischen Schriftsteller eingeladen, an dem mehr als zehn Gäste teilnahmen. Beeindruckt hatte mich zu später Stunde beim allgemeinen Lob des Essens ein deutscher Korrespondent, der schon seit Jahrzehnten in Indien weilte und seine Berichte in der „Frankfurter Allgemeinen“veröffentlichte, als er mir zuflüsterte: „Ob das Essen wirklich gut ist, werden wir erst am nächsten Tag erfahren!“
Nachdem ich das Restaurant verlassen hatte, bezog ich um Mitternacht mein Zimmer im Hotel „Bengali Club“und verkroch mich in der nach Chlor riechenden weißen Bettwäsche. Bereits am frühen Morgen wurde ich von den Krähen und den ständig hupenden Autos und Motorrädern geweckt. „Drei Raben wecken mich in der Früh. In der Nacht weckten mich dagegen die un an der Decke, das vom Korridor und aus den Nachbarzimmern kam“, steht im „Indischen Tagebuch“von Mircea Eliade.
Ein Dienerjunge brachte mir eine Kanne Darjeeling-Tee, Toast, Butter und Orangenmarmelade, das tägliche Frühstück, das er mir einen Monat lang jeden Morgen auf meinen Zimmertisch stellen sollte. Wenn ich mich im Hotel aufhielt, saß er immerzu auf einem Schemel vor meinem Zimmer. Öffnete ich die Tür, erhob er sich, faltete seine Hände und flüsterte schüchtern: „Namaste!“´ Täglich wechselte er meine Bettwäsche, reichte mir frische Handtücher und desinfizierte das Bad. Manchmal stand er Hand in Hand mit einem anderen jungen Hoteldiener an der Treppe und blickte mir nach, wenn ich die verschlungene Hoteltreppe hinuntertrippelte und zur Tür hinaus auf die Straße ging. Es war Monsunzeit, September. Als einmal die Straße vor dem Hotel hüfttief unter Wasser stand und ich meine zwei abendlichen indischen KingfisherBiere vom Getränkeshop von der anderen Straßenseite holen wollte, verbat er mir, das Hotel im strömenden Regen zu verlassen. Vom Fenster aus sah ich, wie er mit den beiden Bierflaschen in den hoch erhobenen Händen durch das tiefe Wasser watete.
Mit meiner Pelikan-Füllfeder und mit meinem Notizbuch, auf dem ein plitschnasser indischer Knabe am Ufer des Meeres abgebildet war, der keck lachend zwischen mehreren über und über mit gelben und orangefarbenen Blumengirlanden behängten Ganeshas, Statuen des indischen Elefantengotts, hockt, ging ich kreuz und quer durch die Straßen von Kalkutta und begann meine Beobachtungen aufzuschreiben, bis ich am späten Nachmittag wieder ins Hotel „Bengali Club“zurückkehrte und mir der junge, Bengali sprechende Diener eine Kanne Darjeeling-Tee und einen Teller mit Pistazien bestreuter indischer Gewürzkekse brachte, „Naan Khatai“genannt, worauf ich mich ein zwei Stunden ausruhte bevor ich Am zweiten oder dritten Tag stellte ich mich nach einer unerwartet aufkommenden Angst und dem Gefühl schrecklicher Einsamkeit immer wieder ans Hotelfenster und überlegte mir, ob ich nicht auf das Glasdach hinunterspringen, mich verblutend einigeln sollte in die ringsum spritzenden Glassplitter, hörte das Schreien der Krähen, das Hupen der Autos und Motorräder, das Schreien der Kinder in der Bengalisprache, bis ich schließlich in meiner Not meinen Arzt in Österreich anrief, der mir empfahl, in eine Apotheke zu gehen und das homöopathische Medikament „Aurum metallicum C 1000“zu kaufen und drei Kügelchen einzunehmen, nicht mehr.
Von zuhause erfuhr ich, dass sich die vierjährige Siri jeden Tag in mein Bett legte und jammerte: „Der Papa soll kommen!“Als Mircea Eliade Ceylon verließ, das heutige Sri Lanka, wo seine Reise durch den indischen Subkontinent begonnen hatte, und nach Kerala reiste, schrieb er in sein Tagebuch: „Dir wird auf einmal klar, dass du gehst, dass du abreist, dass du dich möglicherweise für immer von dem schönsten Ort trennst, den du je zu Gesicht bekommen hast – und dann offenbart sich dir dieser gottverlassene Winkel in seiner gesamten Trostlosigkeit, die Strände sind noch öder und trauriger, die Fischerhütten noch mehr von Armut entstellt. Du fühlst eine schreckliche Einsamkeit.“
Aurum metallicum, heißt es in der Medikamentenbeschreibung, ist ein homöopathisches Heilmittel aus metallischem Gold, das euphorisierend und gegen Depressionen und Selbstmordgefühle wirkt. Unweit des Hotels „Bengali Club“befand sich die homöopathische Apotheke „Murli Medical Hall“in der Stuart Lane. Ich bestellte das Medikament, indem ich einen Zettel mit meinen Wünschen in einen Korb legte. Der Korb wurde mit einem Strick ins obere Stockwerk gezogen, wo die Medizin präpariert wurde. Nachdem ich eine Zeitlang mit meinem Notizbuch durch die Straßen gegangen war, kehrte ich in dem Moment in die Apotheke „Murli“zurück, als das Körbchen mit dem fertigen Medikament zur Verkaufstheke heruntergelassen wurde Ich
Ich stieß auf einen Mann, der mit bloßen Händen so lange ein großes Tor versilberte, bis er selber von Kopf bis Fuß voll Silber war.
ein Geheimnisträger mit der Aurum-Phiole an meinem vor der Zimmertür sitzenden Diener vorbei, setzte mich im Hotelzimmer auf den Diwan und ließ drei Kügelchen Aurum metallicum auf der Zunge zergehen. Sofort hatte ich in meiner Einbildung das Gefühl, dass ein warmer Blitz durch meinen Körper fährt, ich beruhigte mich schnell und fühlte mich beglückt, ich war wieder voller Hoffnung. Es war meine Rettung, der Glaube meines kindlichen, seligen Schutzengels, der nachtragend ist und mich vernichten wollte, hatte mir nun mit einem einzigen, strafenden Fingerzeig geholfen. Ich hatte keine Angst mehr, weder vor den Engeln, noch vor den Teufeln. Ich stand auf, nahm Füllfeder und Notizbuch und ging in die Stadt.
Tag für Tag verließ ich nach dem Frühstück den „Bengali Club“und ging auf der Suche nach Motiven durch Kalkutta, blieb da und dort am Straßenrand stehen und notierte ausführlich mit blauer Tinte aus einem indischen Tintenfass, auf dem ein Pfau abgebildet ist, der seine Federn fächerförmig ausgebreitet hatte, die Natura-morta-Beobachtungen meiner Stielaugen: Vor einem schmiedeeisernen Tor stieß ich auf einen Mann, der mit einem Stofffetzen und den bloßen Händen so lange ein großes Tor versilberte, bis er selber von Kopf bis Fuß voll Silber war, einer lebenden Statue glich. Ich fuhr zum Nimtala Ghat, wo am Ufer des heiligen Flusses Hooghli die Toten von der Berufsgruppe der Dom eingeäschert werden, und beschrieb Einzelheiten der hinduistischen Bestattungen. Auf einem mit Blumen überladenen Bett wurde eine verstorbene alte Frau mit Hilfe zweier unter das Bett geschobener Bambusstangen zum Einäscherungsplatz getragen. Auf dem Kopf und auf den Füßen der Toten lagen mehrere Kränze mit weißen Rosenblüten. An den vier Bettenden hingen neben mehreren brennenden Räucherstäbchen vier Bündel weißer Lilien mit den Köpfen nach unten. Ein spindeldürrer, mit Asche von den Toten beschmierter, Marihuana rauchender Sadhu sammelte drei leere Dosen auf, in denen Butterschmalz war, das bei den Einäscherungsritualen verwendet wurde.
Beim Nimtala Ghat in Kolkata am Einäscherungsplatz mit aufgeschlagenem Notizbuch vor den brennenden Scheiterhaufen sitzend, erinnerte ich mich an meine langen Aufenthalte in der heiligen Stadt Varanasi, am Ufer des Ganges. Nach langer Pilgerschaft in Varanasi anzukommen, sich dort den vorgeschriebenen Umwandlungen, Waschungen und Riten zu unterziehen und schließlich selig zu sterben ist das Lebensziel eines gläubigen Hindu. Monatelang ging ich Tag für Tag am späten Nachmittag vom Hotel „Ganges View“am Assi Ghat das Ufer des Ganges entlang zum Harishchandra Ghat, zum Einäscherungsplatz, setzte mich auf einen Stein und beobachtete das Treiben auf diesem Platz des Todes und des Lebens. Die Prozession des Lebens, heißt es bei der Indologin Diana L. Eck, beinhaltet auch die Prozession des Todes. In Varanasi wird der Tod weder geleugnet noch gefürchtet, sondern als lang erwarteter Gast willkommen geheißen.
Ewig wird mir das Bild in Erinnerung bleiben, als der Leichnam eines Kindsmörders von einem empörten uniformierten Mann an einem Strick über die Steinstiege des Harishchandra Ghat zum Einäscherungsplatz hinuntergezogen wurde. Kopf und Hüften des Mörders waren mit einem Tuch umschlungen, die übrigen Körperteile waren nackt. Sein Oberkörper war aufgeschnitten und nur mit wenigen Stichen zusammengenäht worden, sodass man zwischen den Lücken der Chirurgennähte die grauen Eingeweide herausschimmern sah. Während er am Strick, der an seinen Fußknöcheln befestigt worden war, am ewig brennenden Feuer vorbei, über die Steinstiege hinuntergezogen wurde, schlug sein Hinterkopf immer wieder hart auf die steinernen Stiegenkanten. Blut sickerte aus der Schusswunde am Kopf, aus Mund und Nasenlöchern. Schließlich wurde ihm kein Einäscherungszeremoniell zuteil, der menschliche Kadaver wurde mit einem Boot in die Flussmitte hinausgerudert und ohne hinduistischen Ritus in die Fluten geworfen.
Einmal sah ich den kleinen Sohn eines Dom mit einem orangefarbenen Punkt auf der Stirn, der vergeblich hinter einem hochsteigenden Papierdrachen hergelaufen war, der sein Glied aus seiner zerrissenen kohle urinierte, wo der Leichnam verbrannte. Ein andermal beobachtete ich vier, fünf Männer, die ein rituelles Bad im Ganges genommen und ihre Hüften mit rot-weiß-karierten Tüchern bedeckt hatten, die sich, plaudernd und Bidis rauchend, vor dem brennenden Scheiterhaufen aufreihten und ihre nassen und löchrigen Unterhosen zum Trocknen über die hochstechenden Flammen der verbrennenden Toten hielten.
Ein bloßfüßiger, nur mit einem Lendenschurz bekleideter, halbwüchsiger Knabe übergab einem Mann ein Bündel brennender Sandelholzräucherstäbchen, der vor dem Leichnam des kleinen, von Kopf bis Fuß in ein dünnes, weißes Baumwolltuch eingewickelten ermordeten Mädchens hockte. Er öffnete auf der Brust des Kindes den Knoten des Baumwolltuches und entblößte das Gesicht des Mädchens. Am rechten Nasenflügel und am rechten Ohrläppchen trug das Kind, das weit aufgerissene Augen hatte, einen vergoldeten Ring. Der weinende und laut schluchzende Vater, der mit seinem Handrücken einen im seichten Flussufer liegenden leblosen Hahn zur Seite geschoben hatte, träufelte das heilige Gangeswasser in die Nasenlöcher, in die Ohren und in den Mund seiner kleinen Tochter, die schließlich, mit einem Hanfstrick mit Rosenblüten auf einen schweren, flachen Stein gebunden, von mehreren Männern in die Flussmitte hinausgerudert, mit Gebeten und mit brennenden, bis ans Ufer duftenden Räucherstäbchen im Ganges bestattet wurde.
Die am Flussufer im heißen Sand liegenden Papierfetzen der Kindertotenscheine, auf denen die Geburts- und Sterbedaten der Kinder standen, sammelte ich vom Boden auf und klebte sie in mein rotes Notizbuch, auf dem ein lachender, indischer Junge abgebildet war, auf dessen Kopf, sich ängstlich aneinander schmiegend, drei junge Lemuren, die „Schattengeister der Verstorbenen“genannt werden, mit ihren kugelrunden, glänzenden Augen festkrallten.
In Kalkutta ging ich immer wieder, mit meinem Schreibwerkzeug in der Hand, zum nahe gelegenen New Market durch die Fleisch- und Fischstände, durch die Gemüse- und Südfrüchtestände. In einem Bastkorb standen zwei weiße Hähne mit sichelförmigem Schwanz, rot gezackten, durchscheinenden, in die Höhe stehenden Kämmen, die bei jeder Bewegung gummiartig zur Seite kippten. Auf dem Gestänge der Marktüberdachung wartende Krähen flogen auf einen Fleischstand zu, setzten sich, die Krallen voraus, auf den Rand des Einfülltrichters der Faschiermaschine und beugten sich mit dem Schnabel über die fleischverstopfte Lochscheibe.
Ich beobachtete die ausgemergelten, immerzu nassen, hustenden Wasserträger, die mit ihren handgenähten, bauchigen Ziegenlederbälgen den ganzen Tag über frisches Brunnenwasser ins Marktgelände trugen. Ich begleitete die German Doctors in den Slums von Kalkutta und sah eine über und über mit Marygoldgirlanden geschmückte verwirrte Frau, die den Patienten gnädig Einlass in die Hütte der Ärztinnen gewährte. In einer kleinen, armseligen Hütte, in der ständig ein kleiner Farbfernseher lief, entbündelte ein Mann einen Stoß Fischwirbelsäulen, an denen noch die Fischköpfe hingen, und steckte sie in einen Topf mit kochendem Wasser.
Eine vor der offenen Feuerstelle hockende Frau wendete die gelben, in einer Pfanne mit Öl und Knoblauch brutzelnden Hühnerkrallen. Im Kalighat-Tempel war ich beim Zickleinopfer dabei, wo zum Glück und Wohlergehen der Familien der schwarzen, dreiäugigen Göttin Kali, die eine Kette mit Totenköpfen um den Hals trägt und auf Leichen tanzend mit herausgestreckter Zunge dargestellt wird, jeden Samstagvormittag zwanzig, dreißig Zicklein geopfert werden. Ein Mann zerschlug eine braune Kokosnuss und träufelte, ein Gebet auf Bengali sprechend, die herausrinnende Kokosmilch aufs Schafott. Eine Frau schob ihren Kopf zwischen die Eisengabeln, zwischen die der Kopf des Zickleins gesteckt worden war, und schmierte sich betend das noch warme Blut des Tieres ins Haar. „Immer wieder der gleiche Ausruf im Gedränge, das auf den Gassen entsteht, die zum Haupttempel führen: ,. . . Duurga! . . . Duurga! . . .‘“, schreibt Mircea Eliade in seinem „Indischen Tagebuch“. „Die Menschen warten mit ihren Blumen und Fettopfern in der glühenden Sonne, bis sie schließlich ins Heiligtum hineinströmen. Die zerdrückten Opfergaben türmen sich zu Füßen der Göttin, die ich jedoch in der Dunkelheit des überfüllten Tempels nicht erkennen kann. Man dringt nicht einmal bis zur Wand vor. Ich mache einen Umweg und gelange zum Portikus, wo Ziegenböcke geopfert werden, und zwar zweitausend am Tag, da ja Puja ist.“Schließlich kam, nach so manchen Tagen „schrecklicher Einsamkeit“, wie Mircea Eliade sie in seinem „Indischen Tagebuch“schreibt, der Tag meiner Abreise aus Kalkutta. Meine vier vollgeschriebenen Notizbücher hatte ich nach und nach im Goethe-Institut, im sogenannten „Max Mueller Bhavan“kopiert, und die Kopien vorsichtshalber der Praktikantin Dorothea überlassen, die einmal, so erzählte sie mir, bei Monsun von ihrer Wohnung durch die überfluteten Straßen watend, zur Arbeit gegangen sei, wobei ihr das Wasser bis zu den Hüften gereicht habe. Ich hätte es nicht überlebt, wenn meine Kalkutta-Tagebücher verloren gegangen wären, die Tausenden Eindrücke und kleinen Beobachtungen hätten mich noch im Nachhinein erdrückt, und ich hätte, da ich mir die Einzelheiten nicht merken kann, das schreckliche Gefühl gehabt, ganz und gar umsonst mutterseelenallein in Kalkutta gewesen zu sein. Beim Verlust dieser Reisetagebücher wäre ich nach Kalkutta zurückgekehrt und hätte mich mit Hilfe meines nachtragenden, erbarmungslosen Schutzengels aus dem Fenster des Hotels „Bengali Club“auf ein Glasdach, in den Tod hineingesplittert, es sei denn, ich hätte beim Abflug aus London der Stewardess der British Airways in den Oberarm gebissen.
Ich packte schließlich meinen Koffer, der junge Hoteldiener im „Bengali Club“weinte, das Taxi mit dem Chauffeur Islam wartete. Ich kam frühzeitig auf dem „Netaji Subhash Chandra Bose – International Airport“an. Und als ich, eingewickelt in einen weinroten indischen Schal, die Bordkarten in der Hand hatte, begann ich vor Sehnsucht und Freude, die Kinder wiederzusehen, bitterlich zu weinen und wartete auf den Abflug nach London. Ich war erlöst und gleichzeitig traurig, die Stadt Kalkutta mit ihrem lauten Leben und Treiben, den New Market, den Einäscherungsplatz am Nimtala Ghat, den Kalighat Tempel mit den Zickleinopfern und das Hotel „Bengali Club“mit dem ersten und wohl letzten jungen Diener meines Lebens verlassen zu müssen. Ich wusste, dass dieser eine Monat mir mehr bedeuten würde als viele Jahre meines Lebens in Österreich.
Mein indisches Tintenfass, auf dem ein Pfau abgebildet war, der seine Federn mit den blau irisierenden Augen fächerförmig ausgebreitet hatte, musste ich beim Checkin abgeben, die wenige blaue Flüssigkeit war dem Flughafenpersonal unheimlich. Ich kratzte das Pfauenbild vom halb leeren Tintenfass und legte es in eines meiner Notizbücher, die ich beim Rückflug ständig an meine Brust drückte. „Als du den Garten verlässt“, schreibt Mircea Eliade in seinem „Indischen Tagebuch“, „und in die Rikscha steigst – dir kamen so viele neue nostalgische Gedanken, erweckt durch die Stille des Gartens –, läuft ein Mädchen von der benachbarten Schule herbei und bietet dir mit ihrem reinen Lächeln einen Strauß von Zimtblumen und einen englischen Prospekt an. Was tun mit all diesen Blumen, die in die Sinne einfallen, sie vergewaltigen und ermüden? Steck sie in die Taschen, presse sie ins Notizheft in das du stolzer Europäer
Ein andermal beobachtete ich Männer, die ihre nassen Unterhosen zum Trocknen über die Flammen der verbrennenden Toten hielten.