Wiens exklusivste Bibliothek – für Politiker
Lokalaugenschein. Politisch Interessierte kennen von der Parlamentsbibliothek bestenfalls den Lesesaal. Dorthin, wo die 370.000 Bände seit dem Umzug gelagert sind, kommt kaum jemand: in die Kellerräume des Palais Epstein.
Wien. Genau 19 Stufen geht es im Palais Epstein nach unten, bis man in Begleitung von Elisabeth Dietrich-Schulz den Kellerkorridor betritt. Plötzlich ertönt ein eindringlicher Ton. Denn nur Mitarbeiter dürfen die alarmgesicherte Bibliothek im Normalfall betreten. Dieser Tag ist aber eine Ausnahme, die Direktorin der Bibliothek führt Besucher persönlich durch die unterirdischen Räumlichkeiten.
Wir befinden uns in Wiens unbekanntester Bibliothek – der Parlamentsbibliothek, die der Öffentlichkeit nur selten zugänglich ist. „Ein verstelltes Buch ist ein verlorenes Buch – das ist das Schlimmste“, meint Dietrich-Schulz. Sie dreht ein großes Rad auf der Vorderseite des Regals, dieses verschiebt sich und ebnet den Weg zu den Büchern, die alle katalogisiert sind. Mehr als 370.000 Bände umfasst die Bibliothek, beginnend mit den ersten parlamentarischen Aufzeichnungen des Reichtags von Kremsier 1848.
Schönbrunn und retour
Hier unten lagern bedeutende Schätze – die Augen der Direktorin funkeln, als sie davon erzählt. Die Bücher, die zusammen sechs Tonnen wiegen, befinden sich im Mittelblock, denn hier soll es am trockensten sein. Stellt man alle Bände mit dem Rücken aneinander, ergibt sich eine Länge von zwölf Kilometern. „Das ist so weit wie vom Palais Epstein zum Schloss Schönbrunn und wieder retour“, sagt die Direktorin. Für ein Buch rechnete sie durchschnittlich 2,5 Kilogramm und pro Laufmeter zwanzig Bände.
Etwas ausleihen dürfen nur Abgeordnete zum Nationalrat und Mitglieder des Bundesrats, österreichische Mitglieder des Europäischen Parlaments, Angestellte der parlamentarischen Klubs, parlamentarische Mitarbeiter sowie die Bediensteten der Parlamentsdirektion. Externe Leser können nach der Vorlage eines Lichtbildausweises die Handapparate im Lesesaal nutzen: „Die Systematik der Handapparate ist Karl Renner nachempfunden und einzigartig“, sagt einer der Bibliothekare im Lesesaal. In den Jahren 1895 bis 1907 war Karl Renner, der Staatskanzler und spätere Bundespräsident, Mitarbeiter der damaligen Reichsratsbibliothek.
Elisabeth Dietrich-Schulz arbeitet seit 1989 für die Parlamentsbibliothek, drei Jahre später wurde sie zu deren Direktorin. Heute könnte sie keinen einzigen der Hunderttausenden Bände mehr am selben Platz finden wie zu ihren Anfangszeiten. Denn früher waren die Magazine der Parlamentsbibliothek, gegründet mit kaiserlichem Handschreiben vom 11. Mai 1869, entlang der Reichsratsstraße untergebracht.
Mit der Eröffnung des neuen Eingangsbereichs für das Parlamentsgebäude im Jahr 2006 zog die Bibliothek unter die Erde des Hohen Hauses. Wegen der Sanierung ab 2017 ist sie nun vorübergehend im Palais Epstein untergebracht. Unterirdisch. Die Interimslösung im Palais Epstein zeigte sie kürzlich einer Gruppe junger Teilnehmer beim „Insta Walk“mit Oliver Oth, wo auch die Fotos für die „Presse“entstanden sind.
Heuer feiert die größte heimische Spezialbibliothek für Demokratie und Parlamentarismus ihr hundertfünfzigjähriges Bestehen, beim Literaturfestival im Oktober wird eine Festschrift präsentiert. Das Magazin, in dem die stenografischen Protokolle des Herrenhauses (also des Oberhauses des Reichrats, das aus Vertretern des Adels und Klerus besteht) gelagert sind, ist eher klein und unscheinbar: grauweiße Wände, hohe Regale, kaltes Licht und klassischer Kellergeruch. Der Inhalt des Raums ist aber von historisch großer Bedeutung für Österreichs Demokratie und den Parlamentarismus: Regierungsvorlagen und Ausschussberichte sind hier zu finden, alles ab Beginn der parlamentarischen Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert.
In das Herzstück
Der Verbindungsgang zum unterirdischen Hauptgebäude führt durch eine Waschküche – tatsächlich! –, die nicht zur Bücherei gehört. Nach einer Tür kommt ein 124 Meter langer Gang. Hier befindet man sich zwischen dem Republiksdenkmal und dem Palais Epstein, nur eben einige Meter darunter. In dem Korridor sind links silberne Lüftungsrohre montiert, rechts ist eine weiße Wand, zwischendurch eine Tür. Der Boden ist in Kunstharz gebundener Betonwerkstein. Dieser Weg führt in den großen Teil der Parlamentsbibliothek und später in das Archiv.
Das Herzstück der Bibliothek sind die parlamentarischen Materialien, für deren Erhaltung zwei Klimageräte essenziell sind. Die Temperatur soll 15 bis 18 Grad Celsius, die Luftfeuchtigkeit 45 bis 48 Prozent betragen. Die Staatsverträge, Volksbegehren, Beschlüsse, Sitzungsprotokolle von National- und Bundesrat und Berichte der Bundesregierung sind in großen Rollregalanlagen einsortiert. Die Verlagerung von Büchern sei laut Dietrich-Schulz „bibliothekarisch grenzwertig“, denn die Fachbodentiefe und die Buchstützen (wegen ihrer Schutzfunktion) müssen genau zu den Büchern passen – dafür gibt es aber keine Norm.
Wird ein Buch beschädigt, packen es die Bibliothekare in säurefreies Papier und übergeben es so zur Reparatur. Für den Umzug zurück ins Parlamentsgebäude, der wahrscheinlich im nächsten Jahr stattfinden wird, hätten die Mitarbeiter jetzt aber ausreichend Know-how, sodass die Bücher einfacher zu verlagern sein sollten.
Durch die Baustelle
Sonst wäre das Finden eines Buches das Einfachste an der Arbeit der Bibliothekare, meint DietrichSchulz. Für ein Buch müssten sie mindestens 250 Meter Weg im Keller zurücklegen, das soll aber möglichst schnell gehen. „So erhalten wir unsere Fitness“, sagt Dietrich-Schulz und lächelt. Als Chefin kommt sie mindestens jeden zweiten Tag nach unten, zwei bis drei Mitarbeiter sind täglich hier im Einsatz. Denn die Bücher müssten jederzeit verfügbar sein.
Will man ins Archiv, muss man zuerst durch die unterirdische Baustelle, direkt darüber befindet sich der Kundmann-Brunnen. Hier, im „Rampenmagazin“, wie es Dietrich-Schulz nennt, liegen auch noch die erhalten gebliebenen Originalpläne des Ateliers von Theophil Hansen. Es sind die Pläne für das Parlamentsgebäude.
Stellt man alle Bücher mit dem Rücken aneinander, misst die Länge zwölf Kilometer. Elisabeth Dietrich-Schulz, Direktorin der Bibliothek