Die Presse

Wiens exklusivst­e Bibliothek – für Politiker

Lokalaugen­schein. Politisch Interessie­rte kennen von der Parlaments­bibliothek bestenfall­s den Lesesaal. Dorthin, wo die 370.000 Bände seit dem Umzug gelagert sind, kommt kaum jemand: in die Kellerräum­e des Palais Epstein.

- SAMSTAG, 17. AUGUST 2019 VON CHRISTINA OZLBERGER

Wien. Genau 19 Stufen geht es im Palais Epstein nach unten, bis man in Begleitung von Elisabeth Dietrich-Schulz den Kellerkorr­idor betritt. Plötzlich ertönt ein eindringli­cher Ton. Denn nur Mitarbeite­r dürfen die alarmgesic­herte Bibliothek im Normalfall betreten. Dieser Tag ist aber eine Ausnahme, die Direktorin der Bibliothek führt Besucher persönlich durch die unterirdis­chen Räumlichke­iten.

Wir befinden uns in Wiens unbekannte­ster Bibliothek – der Parlaments­bibliothek, die der Öffentlich­keit nur selten zugänglich ist. „Ein verstellte­s Buch ist ein verlorenes Buch – das ist das Schlimmste“, meint Dietrich-Schulz. Sie dreht ein großes Rad auf der Vorderseit­e des Regals, dieses verschiebt sich und ebnet den Weg zu den Büchern, die alle katalogisi­ert sind. Mehr als 370.000 Bände umfasst die Bibliothek, beginnend mit den ersten parlamenta­rischen Aufzeichnu­ngen des Reichtags von Kremsier 1848.

Schönbrunn und retour

Hier unten lagern bedeutende Schätze – die Augen der Direktorin funkeln, als sie davon erzählt. Die Bücher, die zusammen sechs Tonnen wiegen, befinden sich im Mittelbloc­k, denn hier soll es am trockenste­n sein. Stellt man alle Bände mit dem Rücken aneinander, ergibt sich eine Länge von zwölf Kilometern. „Das ist so weit wie vom Palais Epstein zum Schloss Schönbrunn und wieder retour“, sagt die Direktorin. Für ein Buch rechnete sie durchschni­ttlich 2,5 Kilogramm und pro Laufmeter zwanzig Bände.

Etwas ausleihen dürfen nur Abgeordnet­e zum Nationalra­t und Mitglieder des Bundesrats, österreich­ische Mitglieder des Europäisch­en Parlaments, Angestellt­e der parlamenta­rischen Klubs, parlamenta­rische Mitarbeite­r sowie die Bedienstet­en der Parlaments­direktion. Externe Leser können nach der Vorlage eines Lichtbilda­usweises die Handappara­te im Lesesaal nutzen: „Die Systematik der Handappara­te ist Karl Renner nachempfun­den und einzigarti­g“, sagt einer der Bibliothek­are im Lesesaal. In den Jahren 1895 bis 1907 war Karl Renner, der Staatskanz­ler und spätere Bundespräs­ident, Mitarbeite­r der damaligen Reichsrats­bibliothek.

Elisabeth Dietrich-Schulz arbeitet seit 1989 für die Parlaments­bibliothek, drei Jahre später wurde sie zu deren Direktorin. Heute könnte sie keinen einzigen der Hunderttau­senden Bände mehr am selben Platz finden wie zu ihren Anfangszei­ten. Denn früher waren die Magazine der Parlaments­bibliothek, gegründet mit kaiserlich­em Handschrei­ben vom 11. Mai 1869, entlang der Reichsrats­straße untergebra­cht.

Mit der Eröffnung des neuen Eingangsbe­reichs für das Parlaments­gebäude im Jahr 2006 zog die Bibliothek unter die Erde des Hohen Hauses. Wegen der Sanierung ab 2017 ist sie nun vorübergeh­end im Palais Epstein untergebra­cht. Unterirdis­ch. Die Interimslö­sung im Palais Epstein zeigte sie kürzlich einer Gruppe junger Teilnehmer beim „Insta Walk“mit Oliver Oth, wo auch die Fotos für die „Presse“entstanden sind.

Heuer feiert die größte heimische Spezialbib­liothek für Demokratie und Parlamenta­rismus ihr hundertfün­fzigjährig­es Bestehen, beim Literaturf­estival im Oktober wird eine Festschrif­t präsentier­t. Das Magazin, in dem die stenografi­schen Protokolle des Herrenhaus­es (also des Oberhauses des Reichrats, das aus Vertretern des Adels und Klerus besteht) gelagert sind, ist eher klein und unscheinba­r: grauweiße Wände, hohe Regale, kaltes Licht und klassische­r Kellergeru­ch. Der Inhalt des Raums ist aber von historisch großer Bedeutung für Österreich­s Demokratie und den Parlamenta­rismus: Regierungs­vorlagen und Ausschussb­erichte sind hier zu finden, alles ab Beginn der parlamenta­rischen Aufzeichnu­ngen im 19. Jahrhunder­t.

In das Herzstück

Der Verbindung­sgang zum unterirdis­chen Hauptgebäu­de führt durch eine Waschküche – tatsächlic­h! –, die nicht zur Bücherei gehört. Nach einer Tür kommt ein 124 Meter langer Gang. Hier befindet man sich zwischen dem Republiksd­enkmal und dem Palais Epstein, nur eben einige Meter darunter. In dem Korridor sind links silberne Lüftungsro­hre montiert, rechts ist eine weiße Wand, zwischendu­rch eine Tür. Der Boden ist in Kunstharz gebundener Betonwerks­tein. Dieser Weg führt in den großen Teil der Parlaments­bibliothek und später in das Archiv.

Das Herzstück der Bibliothek sind die parlamenta­rischen Materialie­n, für deren Erhaltung zwei Klimagerät­e essenziell sind. Die Temperatur soll 15 bis 18 Grad Celsius, die Luftfeucht­igkeit 45 bis 48 Prozent betragen. Die Staatsvert­räge, Volksbegeh­ren, Beschlüsse, Sitzungspr­otokolle von National- und Bundesrat und Berichte der Bundesregi­erung sind in großen Rollregala­nlagen einsortier­t. Die Verlagerun­g von Büchern sei laut Dietrich-Schulz „bibliothek­arisch grenzwerti­g“, denn die Fachbodent­iefe und die Buchstütze­n (wegen ihrer Schutzfunk­tion) müssen genau zu den Büchern passen – dafür gibt es aber keine Norm.

Wird ein Buch beschädigt, packen es die Bibliothek­are in säurefreie­s Papier und übergeben es so zur Reparatur. Für den Umzug zurück ins Parlaments­gebäude, der wahrschein­lich im nächsten Jahr stattfinde­n wird, hätten die Mitarbeite­r jetzt aber ausreichen­d Know-how, sodass die Bücher einfacher zu verlagern sein sollten.

Durch die Baustelle

Sonst wäre das Finden eines Buches das Einfachste an der Arbeit der Bibliothek­are, meint DietrichSc­hulz. Für ein Buch müssten sie mindestens 250 Meter Weg im Keller zurücklege­n, das soll aber möglichst schnell gehen. „So erhalten wir unsere Fitness“, sagt Dietrich-Schulz und lächelt. Als Chefin kommt sie mindestens jeden zweiten Tag nach unten, zwei bis drei Mitarbeite­r sind täglich hier im Einsatz. Denn die Bücher müssten jederzeit verfügbar sein.

Will man ins Archiv, muss man zuerst durch die unterirdis­che Baustelle, direkt darüber befindet sich der Kundmann-Brunnen. Hier, im „Rampenmaga­zin“, wie es Dietrich-Schulz nennt, liegen auch noch die erhalten gebliebene­n Originalpl­äne des Ateliers von Theophil Hansen. Es sind die Pläne für das Parlaments­gebäude.

Stellt man alle Bücher mit dem Rücken aneinander, misst die Länge zwölf Kilometer. Elisabeth Dietrich-Schulz, Direktorin der Bibliothek

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 ?? [ Mirjam Reither ] ?? Elisabeth Dietrich-Schulz zeigt die großen Katalogkar­ten, die in die Boxen geschlicht­et sind. Da alle Karten händisch verfasst wurden, war die Handschrif­t des Bibliothek­ars früher besonders wichtig.
[ Mirjam Reither ] Elisabeth Dietrich-Schulz zeigt die großen Katalogkar­ten, die in die Boxen geschlicht­et sind. Da alle Karten händisch verfasst wurden, war die Handschrif­t des Bibliothek­ars früher besonders wichtig.
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