Lesbische Zombies und christlicher Superheld
Für ihr neues Buch spaziert die Germanistin Anna Babka im Sinne einer Re-Lektüre durch historische und zeitgenössische Romane und klopft sie dabei entlang postkolonial-queerer Theorieimpulse ab.
Zwischen den beiden Frauen, die, mit gekrümmten Rücken, zähnefletschend wie wütende Hunde über ihrer Beute stehen, existiert eine gewisse Spannung“, heißt es in Elfriede Jelineks 1995 erschienenem monumentalen Schauerroman „Die Kinder der Toten“. In der lesbischen Verbindung der Protagonistinnen Karin und Gudrun – beide Zombies im Verwesungsstatus – entfaltet sich Lust lediglich aus ekstatisch kannibalischen Aktivitäten: Sie ernähren sich vom Fleisch und Blut anderer. In dem Text gibt Jelinek ihre Körper dem Verfall preis und lässt Geschlechtergrenzen sowie -identitäten zerfließen.
Hohn für bürgerliche Normen
Die Literaturwissenschaftlerin Anna Babka vom Institut für Germanistik der Universität Wien spricht von einer „Poetik und Politik der Überschreitung“. Generell, so betont sie, lösen sich in Jelineks Texten die herkömmlichen Ordnungsschemata – natürlich oder künstlich, weiblich oder männlich, tierisch oder menschlich, gut oder böse – auf. Die Literaturnobelpreisträgerin verhöhne darin das, was „bürgerliche“oder auch „ländliche“Gesellschaften als Normen hochhalten. Babka hat ihre Texte auf Geschlechterverhältnisse untersucht und queere Elemente sichtbar gemacht.
Ursprünglich bedeutete „queer“so viel wie „schräg“und wurde als Schimpfwort für nicht heterosexuelle Menschen verwendet. Im Laufe der Zeit erlebte das Wort jedoch eine Neubewertung. Lesbische, schwule, bisexuelle, intersexuelle, trans und Polyamorie praktizierende Menschen verwendeten es zunehmend als Selbstbeschreibung und besetzten es damit positiv.
Anna Babka: Queer- und Genderforschung will, um es mit der deutsch-argentinischen Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky zu sagen, den Blick für die Komplexität des (sozialen) Geschlechts öffnen und deutlich machen, wie das Geschlecht mit allen Lebensbereichen, etwa mit Arbeit oder Armut, verzahnt ist. Babka interessiert sich allerdings nicht nur für queere Perspektiven in der deutschsprachigen Literatur, sondern auch für postkoloniale. Denn: „Die Frage des Geschlechts ist auf vielfältige Weise mit jener der kulturellen und ethnischen Differenz verwoben, mit globalen und postkolonialen Machtbeziehungen.“Kurzum, es geht um Emanzipation und um Machtkritik.
Jelineks Werk ist dahingehend eine wahre Fundgrube: „Radikale Gesellschaftskritik als Kritik am Patriarchat und an der Kolonialisierung äußert sich als avantgardistischer Schreibfluss in konsequenter Kleinschreibung und willkürlicher Interpunktion“, schreibt Babka über den 1979 erschienenen ironisch-experimentellen Text „bukolit“. Es handelt sich um eine Art erotischen Abenteuerroman, in dem Verweise auf das kolonialistische Gebärden der beiden reisenden Hauptfiguren nicht selten mit brutalen kannibalistischen und sexualisierten Akten verknüpft sind.
Babkas kulturanalytisch orientierte Literaturwissenschaft versteht Texte als Teil des sozialen Lebens – nicht nur passiv als Kulturprodukte, sondern aktiv beteiligt an der Wirklichkeitskonstruktion. Vor diesem Hintergrund untersucht die Germanistin in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Postcolonialqueer. Erkundungen in Theorie und Literatur“exemplarisch Lektüren – ausgehend von der Literatur des 18. Jahrhunderts (Heinrich von Kleist) und 19. Jahrhunderts (Karl May) über Texte aus der Zeit der Jahrhundertwende und Moderne (Robert Michel, Else Lasker-Schüler) bis hin zu Werken des 20. Jahrhunderts (Barbara Frischmuth, Elfriede Jelinek, Josef Winkler) und der Zeit nach der Jahrtausendwende (Semier Insayif ).
Karl May zählt zu den meistgelesenen Schriftstellern weltweit. Aufgrund seiner Anschlussfähigkeit bei einem Massenpublikum – die Weltauflage seines Werkes liegt bei mehr als 200 Millionen Bänden – mag der deutsche Autor nicht so ganz in die Reihe der von Babka analysierten Texte passen. Sie selbst schreibt, dass sie den gewählten Text „In den Schluchten des Balkans“von 1892 in der Hoffnung, von ihrem kindlichen Leseerlebnis und der einstigen Faszination für Texte wie „Winnetou“oder „Der Schatz im Silbersee“eingeholt zu werden, wiedergelesen habe: „Doch weit gefehlt, ist es doch ein Text, in dem sich recht wenige schöne Sätze finden.“Allerdings entfaltet sich in Mays utopischem Erfahrungsraum genau jenes Themenspektrum in komprimierter Form, das Babka für ihre Analyse abtastete: jenes der postimperialen bzw. postkolonialen Narrative. Wohlgemerkt: May hatte den Balkan zu dieser Zeit noch nicht betreten, lässt aber sein Alter Ego Kara Ben Nemsi – begleitet von allerlei pseudoauthentischen Reisebeschreibungen – die Schluchten und Pässe der Rhodopen im südlichen Bulgarien durchqueren.
Der Balkan als Fetisch
„Christlicher Superheld“nennt Babka den europäischen Reisenden und „kulturellen Kolonisator“. Der Text des Winnetou-Erfinders arbeitet sich am Klischee des Balkans als faszinierender kulturellkulinarischer Fetisch ab – folkloristische Elemente und exotische Wildnis inklusive. May legt den Westen, wie für sein Werk generell typisch, als Folie über den Handlungsort: „Westeuropäische Chauseen gi[e]bt es nicht. Schon das Wort Straße sagt zu viel.“Der Boden hier eigne sich hauptsächlich für rückständige, von Tieren gezogene Fuhrwerke.
Anders als Jelinek, die dichotome Ordnungen durchbricht, indem sie Grenzen verschwimmen lässt, nutzt May diese ganz konkret, um den Fantasieraum Balkan in Abgrenzung zu seiner Heimat entstehen zu lassen – sowohl als negativen Gegenentwurf als auch als begehrten Sehnsuchtsort. „Jeder und jedes hat seine abgesonderte Wohnung in diesen Höfen“, beschreibt May ein „Bulgarendorf“. „Es gibt Hütten für die Menschen, Pferde, die Rinder, die Schweine, die Schafe und die Hühner.“Mit seinen stereotypen Landschaftsbeschreibungen verweise er die Menschen „in den Bereich des Tierischen, hier gedacht als das Unzivilisierte“, so Babka. „Über allem liegt jedoch zugleich eine gewisse Idylle.“
„In den Schluchten des Balkans“repräsentiert also keine reale Geografie, hat aber wie alle Texte aus Karl Mays „Orientzyklus“bedeutenden Anteil an den Vorstellungen innerhalb breiter Bevölkerungsschichten. Gleichzeitig werden die stereotypen Ortsbeschreibungen als essenzielle Wesenszüge wie z. B. Faulheit, Chaos und überbordenden Eros an dessen Bewohnerschaft geknüpft. „Damit hat der Text als balkanistischer Diskurs auch Anteil am kolonialen Diskurs“, resümiert Babka.