Schlampiger Shootingstar
Tennis. Eine junge russische Garde drängt in die Weltspitze. Der 23-jährige Moskauer Daniil Medwedew ist ihr Aushängeschild, der 1,98-Meter-Schlaks reist als Titelanwärter zu den US Open.
Cincinnati/Wien. Drei Endspiele in Folge haben auf der ATP-Tour heuer nur zwei Profis erreicht: Roger Federer und Daniil Medwedew. Dem 23-jährigen Russen gelang dieses Kunststück in den drei großen Vorbereitungsturnieren auf die US Open. Erst der Finaleinzug in Washington, dann in Montreal, nun beim Masters 1000 in Cincinnati. Gewinnt er dort gegen David Goffin (nach Redaktionsschluss), steht Medwedew erstmals in den Top fünf der Weltrangliste.
„Ich kann nur den Hut ziehen und gratulieren“, erklärte niemand Geringerer als Novak Djokovic,´ den Medwedew im Halbfinale von Cincinnati mit 3:6, 6:3, 6:3 verabschiedete und damit schon zum zweiten Mal in dieser Saison besiegte. 43 Einzelpartien hat Medwedew heuer gewonnen − und damit mehr als jeder andere Profi. Auch seine 30 Siege auf Hardcourt sind einsame Spitze. Diese Zahlen und die Tatsache, dass er am Sonntagabend in seinem bereits sechsten Finale des Jahres stand, machen den Mann aus Moskau zum Titelanwärter bei den US Open (ab 26. August).
Medwedew ist zudem Anführer einer jungen Garde, die den russischen Tennissport wieder in die Schlagzeilen geführt hat. Nachdem die beiden ehemaligen Weltranglistenersten Jewgeni Kafelnikow und Marat Safin (und später Nikolai Dawydenko) ihre Karrieren beendet hatten, wurde es still um den Davis-Cup-Champion von 2002 und 2006. Nun mischen die Russen wieder mit: Karen Chatschanow, 23, holte im Herbst in Paris seinen ersten 1000er-Titel (Siege über Zverev, Thiem und Djokovic)´ und ist Nummer neun der Welt. Andreij Rublew, 21, kämpft sich nach einer Verletzungspause im Vorjahr und Anzeichen einer Depression wieder zurück, stand in Hamburg im Finale (Viertelfinalsieg über Thiem) und besiegte in Cincinnati Federer.
Medwedew ist der aktuell beste des Moskauer Trios. Vor zwei Jahren war er in Wimbledon noch negativ aufgefallen, weil er einer unliebsamen Schiedsrichterin Münzen vor die Füße geworfen hatte, nun gilt er als Musterprofi. Die geliebten Süßigkeiten wurden verbannt, Coach Gilles Cervara hat ein Team mit Physiotherapeut und Mentaltrainer aufgebaut. Medwedews Spiel ist ohnehin gefürchtet. „Er trifft jeden Ball. Du brauchst in jeder Rallye 25, 30 Shots, um den Punkt zu machen“, sagt Dominic Thiem. „Er hat ein schlampiges Spiel, aber die gute Art von schlampig“, meinte Stefanos Tsitsipas. „Gerade und flach, ohne viel Winkel. Du machst einen Fehler, und weißt nicht wieso.“Schmunzelnd erwiderte Medwedew: „Genau das versuche ich. Sie sollen Schläge machen müssen, die sie nicht gewohnt sind.“
Große Waffe findet sich im Schlagrepertoire des schlaksigen 1,98-Meter-Manns keine. Der Aufschlag ist solide, die Rückhand kerzengerade, er geht kaum unnötiges Risiko ein. Und wenn es nicht so läuft, wie anfangs in Cincinnati gegen Djokovic,´ macht Medwedew verrückte Dinge. „Was soll’s?“, habe er sich gedacht und nur noch erste Aufschläge serviert. Der zweite Service war plötzlich im Schnitt 18 km/h schneller. 16 Asse waren die Folge, so viele musste Djokovic´ heuer noch in keinem Dreisatzmatch hinnehmen.
Medwedew selbst ist kein Mann großer Worte, sein Privatleben hält er privat. Er lebt in Monte Carlo, seine Frau sitzt gewöhnlich in der Spielerbox, er urlaubt wie viele Tennisprofis auf den Malediven. Sein Erfolgsrezept? Die Unberechenbarkeit. Er sagt: „So lange du nicht gegen einen 18-jährigen Wild-Card-Spieler antrittst, weißt du, wie jeder Gegner spielt.“Er selbst wurde noch nicht entschlüsselt. Das Cincinnati-Finale am Sonntagabend war Medwedews 18. Partie in 20 Tagen.