Die Presse

Vivaldis Kälte, Mendelssoh­ns Sanftheit

Das Festival von Grafenegg begann mit einem ungewöhnli­ch fordernden Programm unter freiem Himmel.

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Im sogenannte­n Wolkenturm ging das Eröffnungs­konzert des chronologi­sch gesehen letzten Sommerfest­ivals ins Land: Das Tonkünstle­rorchester unter der Leitung seines Chefdirige­nten, Yutaka Sado, lud zwei prominente Solistinne­n und den Wiener Singverein zum nicht gerade wunschkonz­erttauglic­hen Programm. Grafenegg beherbergt ja dank der Konzeption Heinz Karl Grubers seit Anbeginn Jahr für Jahr einen „Composer in Residence“. Der heuer Erwählte hat selbst Festspiele­rfahrungen wie keiner seines Fachs sammeln können: Peter Ruzicka war Intendant der Salzburger Festspiele und hat dort auch als Organisato­r – noch dazu im heiklen Mozartjahr 2006 – Sporen verdient. Nun residiert er für einige Wochen in Grafenegg und hat zunächst für das Eröffnungs­konzert eine neue Fanfare beigesteue­rt, die, offen gestanden, nicht viel schräger geklungen hat als das, was die Violinisti­n Sarah Chang hernach aus Vivaldis viel gespielten „Jahreszeit­en“gemacht hat. Zumindest in manchen Passagen war es hörbar darum zu tun, die radikalen tonmaleris­chen Effekte auszukoste­n, die der Barockmeis­ter hier zur Charakteri­sierung etwelcher Natureindr­ücke anwandte.

Dissonante Bilder und Hymnen

Mit Harmonie in jenem Sinn, wie sie unser Sprachgebr­auch versteht, hat das wenig zu tun; aber immerhin geht es ja in den einschlägi­gen Nummern des deskriptiv­en Zyklus auch um lautmaleri­sche Umsetzung von Eiseskälte, Winterstar­re. Dass auch sonst nicht jedes Intonation­sdetail von milder Frühlingss­onne beschienen war, nahm man gern zur Kenntnis. Immerhin folgte mit Camilla Nylund eine Sopransoli­stin, die in Mendelssoh­ns Vertonung des 55. Psalms flehentlic­h dramatisch­en Ausdruck und Wohlklang perfekt zur Deckung zu bringen versteht – vom wohl studierten Singverein mit einem adäquaten vokalen Schutzmant­el regelrecht umhüllt.

Zuletzt, um bei den biblischen Gesängen zu bleiben, Igor Strawinsky­s „Psalmensym­phonie“, von Sado mit Chor und Orchester in seiner ganzen Sprödigkei­t detailgena­u ausgebreit­et – da war es dann, apropos Harmonie, mit der romantisch­en Dur- und Moll-Vertrauthe­it endgültig zu Ende. Strawinsky lässt in scharfen Reibungen und knapp skandierte­n Ausrufen beten und bitter, nur das abschließe­nde „Laudate Dominum“verschwebt meditativ; sodass zuletzt nur noch die Außentempe­ratur dafür verantwort­lich gemacht werden konnte, wenn einem Hörer nicht recht warm ums Herz werden wollte. (sin)

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