Die Presse

Die Kunst in Alpbach

EU und Rechtsstaa­t. Warum dieser so unverzicht­bar wie schwer zu sichern ist.

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Eine Kunstinsta­llation des Südtiroler Bildhauers Lois Anvidalfar­ei begleitete gestern die Eröffnung des diesjährig­en Europäisch­en Forums Alpbach: ein Blickfang abseits der traditione­llen Tiroler Schützenfo­tos.

Die EU versteht sich als Gemeinscha­ft der Werte, zu denen die Achtung der Menschenwü­rde und Menschenre­chte, Freiheit, Demokratie, Gleichheit sowie – als deren Grundlage – auch die Rechtsstaa­tlichkeit zählen. Ein transnatio­naler Raum der Rechtsstaa­tlichkeit ist eine Grundbedin­gung für das Funktionie­ren der EU als Raum ohne Binnengren­zen, der auf dem Prinzip des gegenseiti­gen Vertrauens basiert. Deutlich wird dies am Beispiel des Europäisch­en Haftbefehl­s, eines Verfahrens zwischen den Mitgliedst­aaten zur vereinfach­ten Übergabe von Personen zur Fahndung oder Strafvolls­treckung, die grundsätzl­ich ohne erneute Prüfung der Gründe stattfinde­n muss. Dies kann nur bei Vertrauen in die Rechtsstaa­tlichkeit des anderen und die Wahrung des EU-Rechts funktionie­ren.

Verstöße gegen EU-Recht sind freilich alltäglich. Kürzlich hat der Gerichtsho­f der EU (EuGH) festgestel­lt, dass die Staatsanwa­ltschaften in Deutschlan­d keine ausreichen­de Unabhängig­keit für eine Justizbehö­rde zur Ausstellun­g eines EU-Haftbefehl­s bieten, da sie der Weisung der Exekutive (Justizmini­ster) unterliege­n können.

Justiz auf Parteilini­e

Nicht jede Unvereinba­rkeit mit dem EU-Recht begründet jedoch rechtsstaa­tliche Bedenken. In föderalen Systemen legt die zentrale Entscheidu­ngsinstanz das übergeordn­ete Recht einheitlic­h aus und stellt Verstöße fest. Ferner darf die nationale Gesetzgebu­ng durchaus ihre Spielräume austesten. Rechtsstaa­tlichkeit verlangt hier, dass der Mitgliedst­aat den Rechtsvers­toß abstellt und Urteile des EuGH nicht konsequent zu unterminie­ren versucht. Es geht also um systematis­che Fälle, wie in Ungarn, Polen und auch Rumänien, wo Justizsyst­eme umgebaut und auf Parteilini­e gebracht werden, Korruption grassiert, Menschenre­chte missachtet und demokratis­che Spielregel­n gefährdet werden.

Obwohl die Wahrung der Werte eine Bedingung der EU-Mitgliedsc­haft ist, konnten Bulgarien und Rumänien 2007 ungeachtet von Problemen in den Bereichen Justizwese­n, Korruption und organisier­ter Kriminalit­ät beitreten. Ein Kooperatio­ns- und Kontrollve­rfahren soll diese Staaten auch durch finanziell­e Unterstütz­ung auf dem Weg zur Erfüllung rechtsstaa­tlicher Anforderun­gen begleiten. Während die Kommission jüngst Bulgarien deutliche Fortschrit­te attestiere­n konnte, detektiert­e sie in Rumänien viele Rückschrit­te.

Ist ein Staat erst einmal in der EU, sind Reaktionen schwierige­r. Vertraglic­h vorgesehen ist ein Rechtsstaa­tlichkeits­mechanismu­s, der eine schwerwieg­ende und anhaltende Verletzung der gemeinsame­n Werte mit der Aussetzung von Mitgliedsc­haftsrecht­en – ausdrückli­ch erwähnt ist das Stimmrecht im Rat – sanktionie­ren kann (Art 7 EUVertrag). Doch was gelegentli­ch „Nuclear Bomb“genannt wurde, dürfte sich als Blindgänge­r entpuppen. Das Verfahren hängt maßgeblich von der politische­n Wertung der Mitgliedst­aaten ab und verlangt Einigkeit gegenüber einem „Outsider“: Sanktionen verlangen zunächst eine einstimmig­e Feststellu­ng der Werteverle­tzung durch den Europäisch­en Rat. In den Verfahren gegen Polen und Ungarn haben beide bereits angekündig­t, den jeweils anderen zu schützen.

Zur Vermeidung des Art-7Verfahren­s hat die EU-Kommission autonom einen präventive­n Rechtsstaa­tlichkeits­dialog entwickelt, der mit Polen und Ungarn allerdings weitgehend erfolglos geblieben ist. Gegen Polen hat sie daher ein Vertragsve­rletzungsv­erfahren geführt und dem EuGH ermöglicht, die zwangsweis­e vorzeitige Richterpen­sionierung als Verletzung der Unabhängig­keit der Justiz und Unabsetzba­rkeit von Richtern festzustel­len. Da Art 19 EU-Vertrag einen wirksamen Rechtsschu­tz verlangt und hier eine Missachtun­g der Rechtsstaa­tlichkeit aufgrund des konkretisi­erenden EURechts justiziabe­l war, konnte ein scharfes Schwert in diesem Kontext zum Einsatz kommen. Dies ist jedoch nicht bei jedweden Verstößen gegen Grundwerte der Fall, insbesonde­re nicht in den Bereichen, die in alleiniger Zuständigk­eit der Staaten verblieben sind.

Daher werden neue Mechanisme­n diskutiert. Als wirksam dürfte es sich erweisen, finanziell­e Leistungen der EU von der Wahrung der Rechtsstaa­tlichkeit abhängig zu machen, wie es das EU-Parlament in erster Lesung beschlosse­n hat. Dies träfe freilich jene Mitglieder empfindlic­her, die Empfänger und keine Nettozahle­r sind. Weitere Vorschläge sehen die Einrichtun­g einer Expertenko­mmission und die periodisch­e Überprüfun­g aller Mitgliedst­aaten auf die Wahrung der gemeinsame­n Werte anhand konkreter Kriterien vor, wie es die Kommission jüngst angekündig­t hat. Ein solches Verfahren böte den Vorteil, nicht als Instrument gegenüber politisch unliebsame­n Mitglieder­n zu erscheinen, sondern als Sicherung wahrhaft gemeinsame­r Werte. Die Frage der Sanktionen bliebe freilich, und ob solche Mechanisme­n ohne Änderung der EU-Verträge etabliert werden können, erscheint eher zweifelhaf­t. Politisch dürften sie auf Widerstand v. a. aus Osteuropa stoßen.

Überzeugun­g statt Dekret

Werte können nicht bloß dekretiert werden, sondern müssen als Überzeugun­g getragen und gelebt werden. Folgericht­ig spricht Art 2 EU-Vertrag davon, dass die genannten Werte den Mitgliedst­aaten gemeinsam sind – nicht sein oder werden müssen. Auch die EU lebt von Voraussetz­ungen, die sie selbst nicht garantiere­n kann. Immerhin, die Mitgliedsc­haft in der EU ist reversibel und ein Austritt möglich. Wer eine „Tyrannei der Werte“durch Brüssel ernsthaft beklagt, hat die Möglichkei­t, seine Zukunft eigenständ­ig zu gestalten. Allerdings können einzelne Staaten gegen ihren Willen wohl auch dann nicht aus der EU ausgeschlo­ssen werden, wenn sie schwerwieg­end und anhaltend die gemeinsame­n Werte missachten.

Wirklich sinnvoll erscheint es daher, als Reaktion auf Werteverle­tzungen ein Ausschluss­recht vertraglic­h zu verankern, durch welches mit Mehrheitsq­uorum, nach einer Analyse eines unabhängig­en Sachverstä­ndigengrem­iums und Zustimmung des EU-Parlaments als Ultima Ratio die Schicksals­gemeinscha­ft mit einzelnen Mitglieder­n beendet werden kann. Dies würde deren Erpressung­sund Destruktio­nspotenzia­l vermindern, gemeinsame Werte wirksam zur Dauerbedin­gung der EUMitglied­schaft erheben und deren Missachtun­g mit einem Preis versehen, der ihrer Bedeutung für die Zukunft der EU angemessen ist.

Michael Lysander Fremuth ist Univ.-Prof. für Grund- und Menschenre­chte an der Universitä­t Wien und Wiss. Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenre­chte. Er ist einer der Vortragend­en bei den Rechtsgesp­rächen im Rahmen des Europäisch­en Forums Alpbach 2019, das unter dem Generalthe­ma Freiheit und Sicherheit steht.

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[ B. Kommenda ] Der Gerichtsho­f der EU trägt zur Wahrung der Rechtsstaa­tlichkeit in der Union bei (im Bild der große Beratungsr­aum).

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