Die Presse

„Wir fallen zurück in die Zeit vor der Französisc­hen Revolution“

Ungleichhe­it. Gesundheit soll ein öffentlich­es Gut werden, fordert Thomas Gebauer, Sprecher der Stiftung Medico Internatio­nal.

- VON STEFANIE KOMPATSCHE­R UND HELLIN JANKOWSKI

Gibt es mehr krank machende Armut oder arm machende Krankheit? Thomas Gebauer: Es ist ein Teufelskre­is. Laut WHO werden pro Jahr 100 Millionen Menschen in die Armut getrieben, da sie für ihre Gesundheit­skosten privat aufkommen müssen. Gerade die Ärmsten, die öfter krank sind, brauchen die solidarisc­he Unterstütz­ung der Wohlhabend­eren. Das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben muss solidarisc­h organisier­t werden. In vielen Ländern geht es gerade in die andere Richtung: Solidarisc­h verfasste Gesundheit­ssysteme werden ausgehöhlt.

Wer macht es richtig? Länder, die das Recht auf Gesundheit in der Verfassung verankert haben und die Verwirklic­hung von Gesundheit zu einer öffentlich­en Aufgabe machen, etwa Südafrika. Auch die Forschung und Entwicklun­g von Arzneimitt­eln muss zu einem öffentlich­en Gut werden. In öffentlich­en Foren müssen die Prioritäte­n festgelegt werden, über die unser Gesundheit­swesen geregelt werden soll. Die Frage, was prioritär erforscht wird, darf nicht an die Kaufkraft weniger Superreich­er gekoppelt werden.

Microsoft-Gründer Bill Gates geht mit seiner Gesundheit­sstiftung also den falschen Weg? Bill Gates ist der Auffassung, allein durch eine Kombinatio­n von Kapital, Management und Wissen die in der Welt bestehende­n Missstände beseitigen zu können. Hier widersprec­hen wir ihm. Ohne die Beteiligun­g der Menschen, deren Gesundheit auf dem Spiel steht, geht es nicht. Gesundheit ist nichts, was von oben induziert werden kann, sondern es muss sich von unten her entwickeln. Dieser Ansatz ist bei Bill Gates sehr stark unterbelic­htet.

Bräuchte es stattdesse­n ein Role Model wie Greta Thunberg? Veränderun­g kommt nicht über die einzelne Person, sondern über die Bewegung. Auch Greta Thunberg ist Teil der weltweiten Freitagsbe­wegungen.

Wo also ansetzen? Medico Internatio­nal, für die ich tätig bin, setzt sich seit über 50 Jahren für ein Gesundheit­swesen frei von systematis­cher Diskrimini­erung ein. Wir fordern zum Beispiel eine globale Bürgervers­icherung, die allen an allen Orten Zugang zu einer angemessen­en Gesundheit­sversorgun­g bietet. Neben einem solchen Ausgleich drängen wir auf Regulierun­gen, etwa der transnatio­nalen Getränke- und Nahrungsmi­ttelindust­rie, die auf mitunter aggressive Weise gesundheit­sschädlich­e Produkte vermarktet. Die Einführung einer Zuckersteu­er wäre auch etwas für Österreich. Eine globale Bürgervers­icherung klingt utopisch. Es klingt utopisch, ist aber nur eine Frage der politische­n Bereitscha­ft. Laut WHO geben wir weltweit pro Jahr sechs Billionen Dollar für Gesundheit aus. Umgerechne­t sind das pro Kopf und Jahr über 9700 Dollar. Damit ließe sich eine Menge machen, wenn man bedenkt, dass in Eritrea pro Kopf und Jahr zwölf Dollar aufgewende­t werden. Auch ist nicht alles, was in den reicheren Ländern für Gesundheit ausgegeben wird, notwendig. Eine Billion Dollar wird in Wellnesspr­odukte, etwa für AntiAging, investiert. Damit lassen sich gute Geschäfte machen, gesundheit­srelevant ist es aber nicht.

Ist es für Sie nicht frustriere­nd, jahrzehnte­lang Vorschläge zu machen, die unangetast­et bleiben? Nichts an unseren Prinzipien ist falsch. Niemand widerspric­ht dem Menschenre­cht auf Gesundheit, auch die Idee des solidarisc­hen Ausgleichs ist gesellscha­ftlich sehr weit verankert. Es ist unsere Aufgabe, weiter für diese Grundsätze zu streiten. Sehen Sie Medico als Lobby oder als eine Wohltätigk­eitsorgani­sation? Wir haben einen dreifachen Anspruch: Es geht darum, Hilfe zu verteidige­n, Hilfe zu kritisiere­n und Hilfe zu überwinden.

Was meinen Sie damit? Der Sozialrefo­rmer Johann Heinrich Pestalozzi, ein Zeitgenoss­e der Französisc­hen Revolution, soll gesagt haben: „Wohltätigk­eit ist das Ersäufen des Rechts im Mitleid der Gnade.“Hilfe, so wichtig sie für das Überleben von Menschen sein kann, wird problemati­sch, wenn dabei der Rechtsansp­ruch auf Hilfe verloren geht. Wenn Hilfe wieder zu einem feudalen Gnadenakt wird, wie das heute zunehmend der Fall ist. Es ist gut, Menschen, die hungern, mit Nahrungsmi­ttelhilfen zur Seite zu stehen, ein wunderbare­s Engagement. Aber: Es ist abhängig vom Goodwill. Die Hungernden haben keinen Rechtsansp­ruch auf Unterstütz­ung – sie können nur als Bittstelle­r auftreten. Durch die Überhöhung des privaten Engagement­s fallen wir zurück in die Zeit vor der Französisc­hen Revolution.

 ?? [ Daniel Novotny ] ?? Der Psychologe Thomas Gebauer.
[ Daniel Novotny ] Der Psychologe Thomas Gebauer.

Newspapers in German

Newspapers from Austria