„Wir fallen zurück in die Zeit vor der Französischen Revolution“
Ungleichheit. Gesundheit soll ein öffentliches Gut werden, fordert Thomas Gebauer, Sprecher der Stiftung Medico International.
Gibt es mehr krank machende Armut oder arm machende Krankheit? Thomas Gebauer: Es ist ein Teufelskreis. Laut WHO werden pro Jahr 100 Millionen Menschen in die Armut getrieben, da sie für ihre Gesundheitskosten privat aufkommen müssen. Gerade die Ärmsten, die öfter krank sind, brauchen die solidarische Unterstützung der Wohlhabenderen. Das gesellschaftliche Zusammenleben muss solidarisch organisiert werden. In vielen Ländern geht es gerade in die andere Richtung: Solidarisch verfasste Gesundheitssysteme werden ausgehöhlt.
Wer macht es richtig? Länder, die das Recht auf Gesundheit in der Verfassung verankert haben und die Verwirklichung von Gesundheit zu einer öffentlichen Aufgabe machen, etwa Südafrika. Auch die Forschung und Entwicklung von Arzneimitteln muss zu einem öffentlichen Gut werden. In öffentlichen Foren müssen die Prioritäten festgelegt werden, über die unser Gesundheitswesen geregelt werden soll. Die Frage, was prioritär erforscht wird, darf nicht an die Kaufkraft weniger Superreicher gekoppelt werden.
Microsoft-Gründer Bill Gates geht mit seiner Gesundheitsstiftung also den falschen Weg? Bill Gates ist der Auffassung, allein durch eine Kombination von Kapital, Management und Wissen die in der Welt bestehenden Missstände beseitigen zu können. Hier widersprechen wir ihm. Ohne die Beteiligung der Menschen, deren Gesundheit auf dem Spiel steht, geht es nicht. Gesundheit ist nichts, was von oben induziert werden kann, sondern es muss sich von unten her entwickeln. Dieser Ansatz ist bei Bill Gates sehr stark unterbelichtet.
Bräuchte es stattdessen ein Role Model wie Greta Thunberg? Veränderung kommt nicht über die einzelne Person, sondern über die Bewegung. Auch Greta Thunberg ist Teil der weltweiten Freitagsbewegungen.
Wo also ansetzen? Medico International, für die ich tätig bin, setzt sich seit über 50 Jahren für ein Gesundheitswesen frei von systematischer Diskriminierung ein. Wir fordern zum Beispiel eine globale Bürgerversicherung, die allen an allen Orten Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung bietet. Neben einem solchen Ausgleich drängen wir auf Regulierungen, etwa der transnationalen Getränke- und Nahrungsmittelindustrie, die auf mitunter aggressive Weise gesundheitsschädliche Produkte vermarktet. Die Einführung einer Zuckersteuer wäre auch etwas für Österreich. Eine globale Bürgerversicherung klingt utopisch. Es klingt utopisch, ist aber nur eine Frage der politischen Bereitschaft. Laut WHO geben wir weltweit pro Jahr sechs Billionen Dollar für Gesundheit aus. Umgerechnet sind das pro Kopf und Jahr über 9700 Dollar. Damit ließe sich eine Menge machen, wenn man bedenkt, dass in Eritrea pro Kopf und Jahr zwölf Dollar aufgewendet werden. Auch ist nicht alles, was in den reicheren Ländern für Gesundheit ausgegeben wird, notwendig. Eine Billion Dollar wird in Wellnessprodukte, etwa für AntiAging, investiert. Damit lassen sich gute Geschäfte machen, gesundheitsrelevant ist es aber nicht.
Ist es für Sie nicht frustrierend, jahrzehntelang Vorschläge zu machen, die unangetastet bleiben? Nichts an unseren Prinzipien ist falsch. Niemand widerspricht dem Menschenrecht auf Gesundheit, auch die Idee des solidarischen Ausgleichs ist gesellschaftlich sehr weit verankert. Es ist unsere Aufgabe, weiter für diese Grundsätze zu streiten. Sehen Sie Medico als Lobby oder als eine Wohltätigkeitsorganisation? Wir haben einen dreifachen Anspruch: Es geht darum, Hilfe zu verteidigen, Hilfe zu kritisieren und Hilfe zu überwinden.
Was meinen Sie damit? Der Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi, ein Zeitgenosse der Französischen Revolution, soll gesagt haben: „Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mitleid der Gnade.“Hilfe, so wichtig sie für das Überleben von Menschen sein kann, wird problematisch, wenn dabei der Rechtsanspruch auf Hilfe verloren geht. Wenn Hilfe wieder zu einem feudalen Gnadenakt wird, wie das heute zunehmend der Fall ist. Es ist gut, Menschen, die hungern, mit Nahrungsmittelhilfen zur Seite zu stehen, ein wunderbares Engagement. Aber: Es ist abhängig vom Goodwill. Die Hungernden haben keinen Rechtsanspruch auf Unterstützung – sie können nur als Bittsteller auftreten. Durch die Überhöhung des privaten Engagements fallen wir zurück in die Zeit vor der Französischen Revolution.