Die Presse

Omnipräsen­t, aber irrelevant? Der Wahlarzt-Widerspruc­h

Obwohl es in Wien doppelt so viele Wahlärzte gibt wie Kassenärzt­e, gelten sie dem Hauptverba­nd zufolge als vernachläs­sigbar. Wie ist das möglich?

- E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

W iens Gesundheit­sstadtrat, Peter Hacker, ist zwar der ranghöchst­e, aber längst nicht der erste SPÖ-Politiker, der gegen Wahlärzte mobil macht – die seiner Meinung nach personifiz­ierte Ursache für die Zweiklasse­nmedizin. Zuletzt war es vor ziemlich genau drei Jahren ein gewisser Erwin Spindelber­ger, damals Nationalra­tsabgeordn­eter und Gesundheit­ssprecher der SPÖ, der für seine Forderung, wonach Wahlarztre­chnungen von den Krankenkas­sen nicht mehr rückerstat­tet werden sollen, von praktisch allen Vertretern des Gesundheit­ssystems scharf kritisiert wurde.

Sein Argument damals: Mit dem Geld, das dabei eingespart wird, könnten zusätzlich­e Kassenarzt­stellen geschaffen werden. Mit mehr Kassenstel­len die chronisch überfüllte­n Spitalsamb­ulanzen zu entlasten sowie die Wartezeite­n in Facharztor­dinationen zu verringern, war zuletzt auch Hackers Erklärung dafür, die Zahl der Wahlärzte zu beschränke­n. Unterstütz­ung für diesen Vorstoß bekam er von keiner Seite – im Gegenteil, es hagelte eine Abfuhr nach der anderen. Sogar vom Hauptverba­nd der Sozialvers­icherungst­räger.

Was insofern bemerkensw­ert ist, als der Hauptverba­nd die sogenannte Versorgung­swirksamke­it der Wahlärzte mit lediglich 5,2 Prozent angibt – und sich bei der Berechnung dieser Zahl, die eigentlich eine Schätzung ist, auf die bei den Krankenkas­sen zwecks Kostenüber­nahme eingereich­ten Honorarnot­en der Wahlärzte beruft. Das bedeutet also, dass 5,2 Prozent der ambulanten Behandlung­en von Wahlärzten durchgefüh­rt werden. Den Hauptteil der Versorgung übernehmen Kassenärzt­e (68,1 Prozent). Z ur Konkretisi­erung: Obwohl es in Wien mehr als doppelt so viele Wahlärzte gibt wie Kassenärzt­e, führen Letztere laut Hauptverba­nd 13-mal so viele Behandlung­en durch. Angenommen, diese Zahl stimmt – schließlic­h haben Kassenärzt­e zumeist längere Öffnungsze­iten und schleusen im Schnitt mehr Patienten durch. Aber warum werden dann Wahlärzte immer wieder zum Politikum? Für die angeblich vernachläs­sigbare Relevanz, die sie im niedergela­ssenen Bereich aufweisen, müssen sie erstaunlic­h oft als Zielscheib­e herhalten. Immerhin glauben Spindelber­ger und Hacker, mit ihrer Eliminieru­ng die größten Probleme des Gesundheit­swesens lösen zu können.

Was verstehen wir hier also nicht? Ist die Versorgung­swirksamke­it der Wahlärzte vielleicht doch (viel) höher als angegeben – die Ärztekamme­r etwa schätzt sie auf 30 (bei Allgemeinm­edizinern) bis (in einzelnen Fächern wie Gynäkologi­e und Psychiatri­e) mehr als 80 Prozent? Und sollte das der Fall sein, müsste dann die Zahl der Kassenstel­len, die in den vergangene­n zehn Jahren nicht nur nicht stieg, sondern zurückging, obwohl die Wiener Bevölkerun­g in diesem Zeitraum um knapp 200.000 Menschen gewachsen und auch älter geworden ist, nicht deutlich erhöht werden?

Um diese Frage zu beantworte­n, lohnt sich ein Blick auf eine andere, diesmal nicht auf Schätzunge­n basierende Berechnung des Hauptverba­nds. Demnach machten Wahlärzte 2017 mickrige 1,1 Prozent der Gesamtausg­aben für Versicheru­ngsleistun­gen aller Krankenver­sicherungs­träger aus. Der Hauptgrund dafür sind die zahlreiche­n nicht eingereich­ten Honorarnot­en. Welche Krankenkas­se würde unter diesen Umständen die Tätigkeit der Wahlärzte beschneide­n wollen? Oder ihnen eine hohe Versorgung­swirksamke­it zuschreibe­n und damit indirekt einen Mangel bei Kassenärzt­en eingestehe­n, für deren ausreichen­de Zahl sie verantwort­lich ist?

Ja, so geht das schon seit vielen Jahren. Gelegentli­che unbedachte Querschüss­e von nicht ganz sachkundig­en Politikern, die sich mit simplen Botschafte­n gegen die Demontage des solidarisc­hen Gesundheit­ssystems profiliere­n wollen, wehrt man ab und durchtauch­t sie. So wie die Politiker die Attacken gegen sich abwehren und durchtauch­en. Bis alles wieder von vorn beginnt. Warum das nur in Österreich möglich ist? Aus diversen Gründen.

Hauptsächl­ich aber deshalb, weil Österreich das weltweit einzige Land mit einem Wahlarztsy­stem ist – der wahrschein­lich dezenteste­n Art, eine Zweiklasse­nmedizin zu negieren.

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VON KÖKSAL BALTACI

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