Anspannung in Hongkong
Hongkong. China sendet militärische Drohsignale, doch die Demonstranten zeigen keine Ermüdungserscheinungen. Einem Verbot zum Trotz werden die Aktivisten am Samstag auf die Straße gehen. Eine Lösung scheint weit entfernt.
Bedrohliche Bilder, angespannte Stimmung: Marlies Eder berichtet aus Hongkong über die aktuelle Lage.
Es waren bedrohliche Bilder, die Chinas Staatsmedien frühmorgens am Donnerstag veröffentlichten: Während im Norden Militärfahrzeuge der Volksbefreiungsarmee die Grenze nach Hongkong überquerten, legte weiter südlich die Marine an ihrer Basis in der Hafenstadt an. Reine Routine sei die Truppenrotation, beteuerte der Militärposten in der Sonderverwaltungszone – wie in den 22 Jahren seit der Übergabe
der früheren britischen Kolonie an Peking. Die geschätzt 8000 bis 10.000 Soldaten an beiden Seiten der Grenze sollen „Hongkongs Wohlstand und Stabilität sichern“.
Dennoch. So gewöhnlich, wie das chinesische Militär weismachen wollte, war das Manöver nicht, auch der Zeitpunkt war brisant. Für Samstag hat die Civil Human Rights Front zu friedlichen Protesten aufgerufen. Bisher sorgten drei von der Organisation veranstaltete Demonstrationen für Rekordbeteiligungen mit bis zu zwei Millionen Menschen. Diesmal sollte die Versammlung an ein besonderes Jubiläum erinnern: Am 31. August 2014 erteilte Peking freien Wahlen eine Absage. Diese hatte die KP-Führung den Hongkongern eigentlich bis 2017 zugesagt. Das restriktive Gesetzespaket war Auslöser für die prodemokratischen Regenschirmproteste, benannt nach den Schirmen, mit denen sich die Demonstranten gegen den Pfeffersprayeinsatz der Polizisten schützten.
Szenen, an die nun weder die Zentralregierung in Peking noch Regierungschefin Carrie Lam zurückdenken will. Am Dienstag haben die Demonstrationen, die ursprünglich gegen ein Auslieferungsgesetz gerichtet waren, die 79-Tage-Marke von 2014 geknackt. Am Donnerstag verbot die Hongkonger Polizei die für Samstag angekündigte Massenveranstaltung – um noch mehr Schwerverletzte zu verhindern, hieß es. Doch es brauchte keine weiteren Proteste, bis die aufgeheizte Stimmung in Hongkong ein weiteres Opfer forderte: Maskierte Männer attackierten einen Mitorganisator der Civil Human Rights Front und einen Freund in einem Restaurant.
Ein tiefer Graben zieht sich mittlerweile durch die Bevölkerung. Einerseits die Demonstranten: meist junge Leute, die für demokratische Rechte und gegen Polizeigewalt auf die Straße gehen; die den schleichenden Einfluss Pekings auch unter den Ordnungshütern auszumachen glauben. Polizisten verkleideten sich als Aktivisten, um Gewalt zu provozieren. Andererseits die Anhänger Lams und der Polizei: meist Ältere, Wohlhabende, die hinter den Protesten den Einfluss ausländischer Kräfte vermuten, um China wirtschaftlich und politisch zu schaden; die im Vorgehen der gewaltbereiten Demonstranten einen Imageverlust für Hongkong sehen.
Die einzige Verbindung zwischen den Lagern – das Gefühl, dass die Heimatstadt nicht mehr so ist wie früher und die Angst vor Spaltung – ist momentan zu wenig für eine Aussöhnung. Trotzdem ist ein militärisches Einschreiten derzeit unwahrscheinlich. Zu groß wäre der Gesichtsverlust für Chinas Staatschef, Xi Jinping, die Herzen der Hongkonger noch immer nicht für die Führung gewonnen zu haben, schreibt der Hongkonger Politologe Willy Lam. Nach wie vor sei China von der liberalen, offenen Finanzmetropole abhängig.
Peking werde eher auf Zermürbungstaktik setzen, meint Lam: Es werde darauf warten, dass sich die öffentliche Meinung mit einer Gewalteskalation und der wirtschaftlichen Abwärtsspirale gegen die Demonstranten wende. Langfristig aber setze die Volksrepublik darauf, mehr Festlandchinesen in Hongkong anzusiedeln. Noch aber zeigen die Aktivisten keine Ermüdungserscheinungen. Am Samstag wollen sie trotz Verbots auf die Straße gehen. Auch zweiwöchige Studentenstreiks sind angekündigt.