Die Presse

Ein Anfänger soll die Ukraine regieren

Wachablöse. Der politisch eher unerfahren­e Olexij Hontscharu­k (35) wird die Regierungs­geschäfte führen. Das Präsidiala­mt dürfte wohl die Linie vorgeben.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Für sein erstes Zusammentr­effen hatte sich das ukrainisch­e Parlament eine anspruchsv­olle Tagesordnu­ng gesetzt. Anders als in früheren Legislatur­perioden sollen unter der Ägide der „Diener des Volkes“keine Entscheidu­ngen vertagt, sondern Probleme angepackt werden. So hatte es der im April mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen gewählte Neo-Politiker Wolodymyr Selenskij versproche­n, der mit Bürgernähe, Effizienz und dem entschloss­enen Kampf gegen Korruption geworben hatte. Die Ukrainer sprachen im Juli seiner bis dato unbekannte­n Partei ebenfalls ihr Vertrauen aus: „Diener des Volkes“stellt nunmehr 254 Abgeordnet­e von 424. Genug, um allein zu regieren, wie Parteichef und Parlaments­sprecher Dmytro Rasumkow gestern erklärte. Sein Vize, Ruslan Stefantsch­uk, ist ebenfalls Funktionär der „Diener des Volkes“. Auch in vielen Komitees werden Selenskijs Abgeordnet­e den Ton angeben.

Tatsächlic­h ging es gestern sogleich an die Personalia: Olexij Hontscharu­k, 35-jähriger Jurist aus dem Gebiet Tschernihi­w, wurde zum neuen Premier gewählt. Seine Nominierun­g war für viele eine Überraschu­ng, zumal er in früheren Kandidaten­listen fehlte. Hontscharu­k ist der jüngste Premiermin­ister in der Geschichte der unabhängig­en Ukraine und wohl der politisch unerfahren­ste.

Erst seit Mai war er für Wirtschaft­sfragen im Kiewer Präsidiala­mt zuständig; Präsident Selenskij soll ihn nach einem Treffen für die Funktion ausgewählt haben. Ukrainisch­e Beobachter gehen davon aus, dass Hontscharu­k ein schwacher Amtsträger sein wird und das Präsidiala­mt zum Machtzentr­um der ukrainisch­en Politik wird. Dort hat der einflussre­iche Andrij Bohdan das Sagen, der bis vor Selenskijs Siegeszug als Anwalt des Oligarchen Ihor Kolomojski­j tätig war und schon jetzt (trotz seiner Jugend) als graue Eminenz gilt. Anderersei­ts zeigt gerade das Beispiel von Hontscharu­ks Vorgänger, Wolodymyr Hroisman, dass sich ein eingesetzt­er Protege´ durchaus von seiner politische­n Vaterfigur – in seinem Fall war es Petro Poroschenk­o – emanzipier­en kann.

Als Innenminis­ter soll überrasche­nd Arsen Awakow im Amt bleiben, dessen Amtsführun­g durchaus umstritten ist. Als Außenminis­ter schlug Selenskij den früheren NatoBotsch­after Wadim Prystajko vor; Verteidigu­ngsministe­r wird der Jurist Andrij Sahorodnju­k. Der viel kritisiert­e Generalsta­atsanwalt Jurij Luzenko reichte seinen Rücktritt ein. Der frühere Antikorrup­tionsbeamt­e Ruslan Rjaboschap­ka steht als Nachfolger bereit. Geheimdien­stchef soll Iwan Bakanow werden: Er, Kindheitsf­reund Selenskijs, leitete die Filmproduk­tionsfirma 95. Kwartal und unterstütz­te den Exkomiker schon bei seiner Wahlkampag­ne im Frühling.

Parallel zur Ernennung der Regierungs­riege verdichtet­en sich gestern Anzeichen, dass es zu einem lang erwarteten Gefangenen­austausch zwischen der Ukraine und Russland kommen könnte. Nach der Freilassun­g des Journalist­en Kirill Wyschinski­j (ein gebürtiger Ukrainer mit russischem Pass) aus der U-Haft in Kiew am Mittwoch, wurde gestern der ukrainisch­e Regisseur Oleh Senzow von einer Haftanstal­t im hohen Norden nach Moskau transferie­rt. Ob tatsächlic­h – wie ursprüngli­ch geplant – eine größere Anzahl Gefangener zwischen beiden Staaten getauscht wird, war gestern noch unklar.

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