So reibt Johnsons Taktik Großbritannien auf
Analyse. Die Zwangsbeurlaubung des Unterhauses ist für den britischen Premier ein hochriskantes Spiel, auch weil sie seine Gegner motiviert, in einem finalen Kraftakt alles zu wagen – sogar den Sturz der Regierung.
Die Suspendierung des britischen Unterhauses durch Premierminister Boris Johnson hat die politischen Karten in London neu gemischt. „Die Presse“ging den möglichen Folgen – für Großbritannien selbst und für den EU-Austritt – auf die Spur:
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Das ist seit Mittwoch schwieriger geworden. Die Ruhigstellung des Parlaments ab der zweiten Septemberwoche hat zur Folge, dass für legislative Maßnahmen, die die Regierung zu einem Aufschub des Brexit-Datums verpflichtet hätten, de facto keine Zeit mehr vorhanden ist – sie müssten nämlich noch vor dem 9. September beschlossen werden. Der Opposition bleibt als Option noch ein Misstrauensantrag gegen die Regierung, der Neuwahlen zur Folge hätte. Doch auch da sind die Erfolgsaussichten fraglich. Es ist alles andere als sicher, dass Johnson nach einem Misstrauensvotum tatsächlich das Feld räumen würde – die Regierung könnte stattdessen das Parlament auflösen, den Wahltermin knapp nach dem Brexit ansetzen und bis dahin provisorisch im Amt bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Prorogation des Parlaments auf außerparlamentarischen Wegen aufgehoben wird, ist eher gering – auch wenn eine Online-Petition für dieses Ziel binnen 24 Stunden mehr als eine Million Unterschriften erhalten hat.
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Auch das lässt sich derzeit nicht beantworten. Die Regierung verfügt zwar über eine hauchdünne Mehrheit im Unterhaus. Ob europafreundliche Tories dazu bereit sind, ihren eigenen Premier zu stürzen und stattdessen den Sozialisten Jeremy Corbyn als Regierungschef zu installieren, ist unklar. Auf der anderen Seite gibt es bei Labour rund 20 Abgeordnete, die den harten Brexit befürworten und das Vorgehen der Regierung (zumindest indirekt) gutheißen.
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Die Kluft unter den Tories ist durch Johnsons Winkelzug größer geworden. „Ohne Mehrheitswahlrecht hätte sich diese Partei längst gespalten“, so ein Diplomat. „Das ist etwa so, als ob in Österreich FPÖ und Grüne in einer Partei zusammenarbeiten müssten und eine gemeinsame Linie in der Migrationsfrage suchten.“Der ehemalige Schatzkanzler Philip Hammond führt aktuell die Gruppe von Tory-Rebellen im Unterhaus an, die einen No-Deal-Brexit mit allen Mitteln verhindern wollen. Laut „Guardian“würden derzeit mehr als 40 der 311 Abgeordneten der Tories zur Not auch gegen die Regierung stimmen. Allein die proeuropäischen schottischen Tories, deren Vorsitzende am Donnerstag zurückgetreten ist, sind mit 13 Abgeordneten im Unterhaus vertreten. Sie könnten sich den Rebellen anschließen. Ein Teil der Tory-Abgeordneten geht nicht nur wegen der EU-Linie oder der Suspendierung des Unterhauses auf Distanz zu ihrem Parteichef. Einige stört auch, dass Johnson mit seinen jüngsten Milliarden-Versprechungen für Wirtschaft und Gesundheitssystem die traditionelle wirtschaftsliberale Linie der Partei verlassen hat. Einziges Glück der Tories: Die größte Oppositionspartei, Labour, ist fast ebenso gespalten. Auch dort gibt es keine einheitliche Linie zum Brexit.
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