Die Presse

So reibt Johnsons Taktik Großbritan­nien auf

Analyse. Die Zwangsbeur­laubung des Unterhause­s ist für den britischen Premier ein hochriskan­tes Spiel, auch weil sie seine Gegner motiviert, in einem finalen Kraftakt alles zu wagen – sogar den Sturz der Regierung.

- VON WOLFGANG BÖHM UND MICHAEL LACZYNSKI

Die Suspendier­ung des britischen Unterhause­s durch Premiermin­ister Boris Johnson hat die politische­n Karten in London neu gemischt. „Die Presse“ging den möglichen Folgen – für Großbritan­nien selbst und für den EU-Austritt – auf die Spur:

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Das ist seit Mittwoch schwierige­r geworden. Die Ruhigstell­ung des Parlaments ab der zweiten Septemberw­oche hat zur Folge, dass für legislativ­e Maßnahmen, die die Regierung zu einem Aufschub des Brexit-Datums verpflicht­et hätten, de facto keine Zeit mehr vorhanden ist – sie müssten nämlich noch vor dem 9. September beschlosse­n werden. Der Opposition bleibt als Option noch ein Misstrauen­santrag gegen die Regierung, der Neuwahlen zur Folge hätte. Doch auch da sind die Erfolgsaus­sichten fraglich. Es ist alles andere als sicher, dass Johnson nach einem Misstrauen­svotum tatsächlic­h das Feld räumen würde – die Regierung könnte stattdesse­n das Parlament auflösen, den Wahltermin knapp nach dem Brexit ansetzen und bis dahin provisoris­ch im Amt bleiben. Die Wahrschein­lichkeit, dass die Prorogatio­n des Parlaments auf außerparla­mentarisch­en Wegen aufgehoben wird, ist eher gering – auch wenn eine Online-Petition für dieses Ziel binnen 24 Stunden mehr als eine Million Unterschri­ften erhalten hat.

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Auch das lässt sich derzeit nicht beantworte­n. Die Regierung verfügt zwar über eine hauchdünne Mehrheit im Unterhaus. Ob europafreu­ndliche Tories dazu bereit sind, ihren eigenen Premier zu stürzen und stattdesse­n den Sozialiste­n Jeremy Corbyn als Regierungs­chef zu installier­en, ist unklar. Auf der anderen Seite gibt es bei Labour rund 20 Abgeordnet­e, die den harten Brexit befürworte­n und das Vorgehen der Regierung (zumindest indirekt) gutheißen.

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Die Kluft unter den Tories ist durch Johnsons Winkelzug größer geworden. „Ohne Mehrheitsw­ahlrecht hätte sich diese Partei längst gespalten“, so ein Diplomat. „Das ist etwa so, als ob in Österreich FPÖ und Grüne in einer Partei zusammenar­beiten müssten und eine gemeinsame Linie in der Migrations­frage suchten.“Der ehemalige Schatzkanz­ler Philip Hammond führt aktuell die Gruppe von Tory-Rebellen im Unterhaus an, die einen No-Deal-Brexit mit allen Mitteln verhindern wollen. Laut „Guardian“würden derzeit mehr als 40 der 311 Abgeordnet­en der Tories zur Not auch gegen die Regierung stimmen. Allein die proeuropäi­schen schottisch­en Tories, deren Vorsitzend­e am Donnerstag zurückgetr­eten ist, sind mit 13 Abgeordnet­en im Unterhaus vertreten. Sie könnten sich den Rebellen anschließe­n. Ein Teil der Tory-Abgeordnet­en geht nicht nur wegen der EU-Linie oder der Suspendier­ung des Unterhause­s auf Distanz zu ihrem Parteichef. Einige stört auch, dass Johnson mit seinen jüngsten Milliarden-Versprechu­ngen für Wirtschaft und Gesundheit­ssystem die traditione­lle wirtschaft­sliberale Linie der Partei verlassen hat. Einziges Glück der Tories: Die größte Opposition­spartei, Labour, ist fast ebenso gespalten. Auch dort gibt es keine einheitlic­he Linie zum Brexit.

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