Keine Spur von einem Homosexuellen-Gen
Wissenschaft. Eine große US-Studie sagt: Der Einfluss der DNA auf sexuelle Orientierung ist geringer als angenommen.
Es ist 26 Jahre her, dass der US-Genetiker Dean Hamer die Existenz eines „gay gene“postuliert hat: 1993 erschien in Science (265, S. 321) seine Studie über „A Linkage Between DNA Markers on the X Chromosome and Male Sexual Orientation“. Hamer, selbst bekennender Homosexueller, wurde dafür heftig kritisiert, aber auch gelobt, in der Gay Community von San Francisco sah man T-Shirts mit der Aufschrift „Xq28 – Thanks for the genes, Mom!“
Xq28 stand für den Abschnitt auf dem X-Chromosom, in dem Hamer das vermeintliche „Schwulen-Gen“geortet hatte, tatsächlich gefunden hatte er es nicht. Dass es auf dem X-Chromosom, das Männer nur von ihren Müttern erben, liegen sollte, bestätigte seine Interpretation menschlicher Stammbäume, laut der homosexuelle Männer auffällig oft ebensolche Onkel haben sollen.
Doch Hamers Fund konnte in etlichen Studien nicht repliziert werden, die Suche nach einem „Schwulen-Gen“ist bis heute ergebnislos geblieben. Nun erscheint in Science (365, S. 869) eine groß angelegte Studie über die „genetic architecture of same-sex sexual behavior“. Genetiker um Andrea Ganna (Harvard, USA) haben aus der UK-Biobank und der US-Firma 23andMe stammende DNA-Daten von 470.000 Menschen im Alter von 40 bis 70 durchkämmt und mit deren Aussagen über ihre sexuelle Orientierung verglichen. Ihr Resümee: Von einem eindeutigen „gay gene“kann keine Rede sein, sondern Tausende genetischer Varianten zeigen kleine und kleinste Korrelationen mit der Neigung zur Homosexualität. Diese sei durch all diese Varianten zusammen nur zu höchstens 25 Prozent voraussagbar, das ist deutlich weniger als die übliche Schätzung des genetischen Einflusses auf Charakterzüge auf ungefähr die Hälfte. (Die andere Hälfte wird der Umwelt zugeschrieben.) Von einem Gen im Abschnitt Xq28 fand sich gar keine Spur, nur fünf DNA-Varianten korrelieren stärker mit der sexuellen Orientierung, davon eine nur bei Frauen und zwei nur bei Männern.
Von diesen Varianten, schreiben die Forscher, liege eine in der Nähe des Gens TCF12, das mit der sexuellen Differenzierung zu tun hat („Das stärkt die Idee, dass die Regulierung von Sexualhormonen an der Entwicklung gleichgeschlechtlichen Verhaltens beteiligt sein könnte“); die andere liege in der Nähe von Genen, die am Geruchssinn beteiligt sind. Insgesamt scheint genetische Variation bei Männern die Neigung zur Homosexualität stärker zu beeinflussen.
Die Studie wird wohl nicht nur unter Genetikern Debatten auslösen. Die Forscher betonen, dass sie mit „LGBTQIA+ advocacy groups“(I steht für intersexuell, A für asexuell) Kontakt aufgenommen haben, und dass ihre Arbeit die Komplexität menschlicher Sexualität unterstreiche. Das Wort Homosexualität vermeiden sie übrigens, sie sprechen von „same-sex sexual behavior“oder „nonheterosexuals“. Dieser Begriff soll Bisexuelle einschließen, dass auch er zur Marginalisierung, zum „Othering“, verwendet werden könne, räumen die Autoren explizit ein. Und sie nennen selbst einen Mangel ihrer Arbeit: Ihr Sample sei auf Menschen europäischer Herkunft beschränkt.