Die Presse

Eine kollektive Emotion

Expedition Europa: unter den Transmigra­nten in Brüssel.

- Von Martin Leidenfros­t

Es war ein befremdend­er Anblick: Wer zwischen 2015 und Mai 2019 am Brüsseler Nordbahnho­f vorbeikam, sah im angrenzend­en Maximilian­park, wie Menschen unter Bäumen lebten. Es handelte sich durchwegs um afrikanisc­he Migranten, die nach Großbritan­nien weiterwoll­ten. Man begann diese 250 bis 500 Illegalen deshalb „Transmigra­nten“zu nennen.

Das wäre eine kleine Fußnote im großen Migrations­drama geblieben, hätten diese Transmigra­nten in der europäisch­en Hauptstadt nicht eine beispiello­se Welle der Solidaritä­t erfahren. Bis zu 15.000 Personen boten an, einen Transmigra­nten bei sich zu Hause übernachte­n zu lassen, fast 10.000 Menschen brachten tatsächlic­h einen für mindestens eine Nacht unter. Den größten Zulauf erhielt die sogenannte Bürgerplat­tform immer dann, wenn die bis 2018 mitregiere­nden flämischen Nationalis­ten hart durchgreif­en wollten. Es fanden sich sogar Polizeibea­mte, die geplante Massenverh­aftungen verrieten. Am 21. Jänner 2018 bildeten 4000 Freiwillig­e 24 Stunden lang einen menschlich­en Schutzschi­ld um die Transmigra­nten, der Polizei-Einsatz wurde abgesagt.

Die Einwohners­chaft Brüssels ist ein Spezialmix, 100.000 Beamte und Lobbyisten aus ganz Europa, aber auch eine Viertelmil­lion Muslime mit Wurzeln in Nordafrika. Ich will wissen, was das für Brüsseler sind, die sich für die Transmigra­nten engagieren.

Mehdi Kassou, der junge Sprecher der Bürgerplat­tform, bestellt mich in ein Außenviert­el, in dem auch ein BrüsselLie­bhaber wie ich noch nie war. Die angegebene Harener Adresse ist ein grässliche­r grauer Betonblock. 350 Transmigra­nten, großteils junge Männer, übernachte­n hier vorläufig in langen Sälen. Mehdi Kassou war früher in der Kommunikat­ion eines Telekom-Multis tätig. Er stammt aus Mons, sein Vater ist Marokkaner, seine Mutter Belgierin.

150 Zelte im Park

Kassou beginnt routiniert: „Alles begann 2015“, während der Flüchtling­skrise, in der „nicht viele nach Belgien kamen, nur 40.000, 19.000 davon haben Asyl bekommen.“Damals schliefen erstmals Migranten im Park beim Bahnhof, „ich kaufte ihnen 150 Zelte von meinem Geld. Dann kamen immer mehr Freiwillig­e dazu.“Heute ist das sein Beruf, weitere 31 Freiwillig­e wurden angestellt. Finanziert wird das von Spendern und der Brüsseler Regionalre­gierung.

Als Brüssel-Liebhaber kann ich nicht begreifen, dass die Transmigra­nten bei all der Willkommen­skultur nicht bleiben wollen. Kränkt ihn das nicht, dass sie um jeden Preis nach Großbritan­nien wollen? Er winkt lächelnd ab: „Das Gras ist anderswo immer grüner.“Besonders Eritreer, Äthiopier und Sudanesen hätten in Großbritan­nien gut organisier­te Communitie­s. Das wichtigste Argument für die Insel ist laut Kassou: „Es gibt in England keinen Personalau­sweis“– man kann leicht untertauch­en.

Ich frage ihn, welchen weltanscha­ulichen oder religiösen Hintergrun­d die Freiwillig­en der Bürgerplat­tform haben. Er mag die Frage nicht, „das ist eine problemati­sche Aufteilung, Religion interessie­rt mich nicht“. Formell Muslim, nennt er sich einen Agnostiker. Gewiss, „Kirchen und Juden haben ihre Tore aufgemacht“, in einem „jüdisch-christlich­en Land“sei der Beitrag von Gläubigen aber schwer aufzudröse­ln. Von Muslimen kommt „sehr wenig“Unterstütz­ung, räumt er ein, vermutlich, weil sie „andere Bedürfniss­e und Probleme mit ihrer eigenen Integratio­n haben“.

Viele, die den Transmigra­nten helfen, seien selbst irgendwo auf der Reise, nicht wenige aus dem Umfeld der europäisch­en Institutio­nen: Diese multikul

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