Die Presse

Erdog˘ans Rivale ist wieder frei

Türkei. Ein Gericht hob die Untersuchu­ngshaft für Kurdenpoli­tiker Demirta¸s nach fast drei Jahren auf. Die Regierungs­partei AKP bereitet den Ausschluss von Ex-Premier Davuto˘glu vor.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Gericht hob U-Haft für Kurdenpoli­tiker Demirta¸s auf.

Der charismati­sche Kurdenpoli­tiker Selahattin Demirtas¸ soll nach fast drei Jahren im Gefängnis bald freigelass­en werden. Ein türkisches Gericht ordnete jetzt die Aufhebung seiner Untersuchu­ngshaft an; die Türkei fügt sich damit einem Spruch des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte in Straßburg.

Eine Rückkehr des begabten Politikers könnte die Kräfteverh­ältnisse in der Türkei verändern, denn die Opposition bekäme damit neben dem Istanbuler Bürgermeis­ter, Ekrem Imamoglu,˘ einen zweiten Hoffnungst­räger – während Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan˘ wegen Unzufriede­nheit in seiner AKP und der anhaltende­n Wirtschaft­skrise immer mehr in die Defensive gerät.

Demirtas¸ war im Herbst 2016 wegen des Vorwurfs der Terrorprop­aganda in Untersuchu­ngshaft genommen worden. Erdogan˘ hatte ihn öffentlich als „Terroriste­n“und Erfüllungs­gehilfen der Terrorgrup­pe PKK bezeichnet. Eine Forderung der Richter in Straßburg nach Freilassun­g des Kurdenpoli­tikers wiesen Erdogan˘ und die türkische Justiz im vergangene­n Jahr zurück.

Deshalb drohte der Türkei, die als Mitglied des Europarats eigentlich an Urteile aus Straßburg gebunden ist, bald eine neue Ohrfeige des Menschenre­chtsgerich­tshofs, der in wenigen Wochen erneut zum Fall Demirtas¸ Stellung nehmen wollte, und zwar in Form des Ausschluss­es aus der Organisati­on. Aus Kreisen des Europarats verlautete, die Türkei riskiere den Ausschluss aus der Organisati­on, wenn sie die Straßburge­r Anweisunge­n weiter ignoriere.

Hauptproze­ss läuft weiter

Gegen Demirtas¸ laufen mehrere Prozesse. Im Hauptverfa­hren in Ankara, in dem die Anklage mehr als 140 Jahre Haft fordert, ordnete das Gericht nun an, die U-Haft zu beenden. Damit will die Türkei den Streit mit dem Europarat entschärfe­n.

Die Staatsanwa­ltschaft legte am Dienstag zwar Einspruch ein. Laut türkischen Medienberi­chten kann Demirtas¸ dennoch bald mit einer Freilassun­g rechnen. Seine lange Untersuchu­ngshaft dürfte demnach auf eine bereits rechtskräf­tige Verurteilu­ng zu mehr als vier Jahren Haft in einem anderen Verfahren angerechne­t werden. Der Hauptproze­ss in Ankara läuft aber weiter.

Kooperatio­n mit Imamoglu?˘

Für die türkische Opposition wäre eine Freilassun­g von Demirtas¸ ein weiterer Erfolg nach den Siegen bei den Kommunalwa­hlen im März und im Juni. Als Vorsitzend­er hatte Demirtas¸ die Kurdenpart­ei HDP für nicht kurdische, linksliber­ale Wähler in den türkischen Metropolen geöffnet.

Seine Beliebthei­t verhalf ihm bei der Präsidente­nwahl im vergangene­n Jahr zu Platz drei, obwohl er aus der Zelle heraus um Stimmen werben musste.

Heute ist die HDP die drittstärk­ste Kraft im Parlament. In Istanbul hatten HDP-Wähler im Juni den Opposition­skandidate­n Imamoglu˘ von der Säkularist­enpartei CHP unterstütz­t und so die AKP aus dem Rathaus geworfen.

Sollten Demirtas¸ und Imamoglu˘ diese Zusammenar­beit festigen, könnten HDP und CHP der regierende­n AKP bei den nächsten Wahlen gefährlich werden.

Auch die Wirtschaft­skrise sowie Korruption und Nepotismus machen der AKP zu schaffen. Mehrere Ex-Weggefährt­en Erdogans˘ wollen eigene Parteien gründen.

Einen der Abweichler, den früheren Ministerpr­äsidenten und Parteivors­itzenden Ahmet Davutoglu,˘ will Erdogan˘ deshalb jetzt aus der AKP ausschließ­en lassen. Ex-Wirtschaft­sminister Ali Babacan, der ebenfalls an der Gründung einer neuen Partei arbeitet, hatte jüngst von sich aus die AKP verlassen.

Neuwahlger­üchte

Zwar stehen die nächsten regulären Wahlen erst in vier Jahren an. der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ könnte aber versucht sein, vorgezogen­e Neuwahlen anzusetzen, um Gegner wie Davutoglu˘ und Babacan daran zu hindern, in aller Ruhe ihre neuen Parteien aufzubauen. Demirtas’¸ Nachfolger als HDP-Chef, Sezai Temelli, rief seine Partei schon auf, sich auf baldige Wahlen vorzuberei­ten.

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[ Yasin Akgul/picturedes­k.com] Nach drei Jahren in Untersuchu­ngshaft soll der frühere HDP-Vorsitzend­e Selahattin Demirta¸s nun freigelass­en werden.

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