Die Presse

Machtkampf im Unterhaus

Großbritan­nien. Gegner eines No-Deal-Brexit ließen sich von Drohungen der Regierung nicht einschücht­ern. Premiermin­ister Johnson verlor die Parlaments­mehrheit und zielt auf Neuwahlen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Premiermin­ister Johnson verlor Mehrheit im Unterhaus.

Ein stilles Gefühl wachsender Zuversicht erfüllte die Gegner des Brexit-Kurses des britischen Premiermin­isters, Boris Johnson, zum Auftakt der ersten Parlaments­sitzung nach der Sommerpaus­e. „Wir haben die Stimmen beisammen“, sagte der frühere Schatzkanz­ler Philipp Hammond noch vor Zusammentr­eten des Unterhause­s gestern, Dienstag, in London. Die Opposition wollte gemeinsam mit Rebellen von Johnsons Konservati­ven einen Antrag auf die Tagesordnu­ng setzen, der ein Ausscheide­n Großbritan­niens zum aktuellen Stichtag am 31. Oktober um drei Monate verschiebt.

Gegen Abend dann der nächste Rückschlag für Johnson: Er verlor nach dem Übertritt des bisherigen Tory-Abgeordnet­en Philipp Lee zu den EU-freundlich­en Liberalen seine auf einen Sitz zusammenge­schrumpfte Mehrheit im Unterhaus. Lee zählt zu den Gegnern eines harten Brexit.

Johnson hatte am Vorabend erneut betont, dass er „unter keinen Umständen“eine weitere Verzögerun­g des EU-Austritts in Brüssel beantragen werde. Er vertritt den Kurs eines „Brexit ohne Wenn und Aber“. Seinen Gegner warf er vor, der britischen Verhandlun­gsposition „die Beine abzuhacken“. Nur wenn Brüssel überzeugt davon sei, dass London vor einem harten Brexit nicht zurücksche­ue, werde die EU zu Zugeständn­issen bereit sein. EU-Diplomaten reagierten gestern mit „Verblüffun­g“auf diese Aussagen. „Wo haben diese Leute die vergangene­n zwei Jahre verbracht?“

Obwohl Johnson in einer Erklärung an das Volk vor seinem Amtssitz Montagaben­d betonte: „Ich will keine Neuwahlen, und ihr wollt auch keine Neuwahlen“, ist mittlerwei­le klar, dass er genau diese Option anstrebt, sollte ihm das Parlament beim Brexit Einhalt gebieten. Aus seiner Umgebung wurde bereits der 14. Oktober als Termin lanciert. Johnson setzt dabei darauf, als Einlöser des Brexit die Labour Party vernichten­d besiegen zu können.

„Eine riesige Falle“

Die erforderli­che Zustimmung der Opposition zu Wahlen schien zunächst sicher. „Wir sind bereit“, erwiderte Labour-Chef Jeremy Corbyn, der zwei Jahre Neuwahlen gefordert hatte. Im Verlauf des Tages setzten sich aber jene durch, die in Johnsons Ankündigun­g eine „riesige Falle“sehen. Nach einem Treffen der Opposition erklärte die Fraktionsc­hefin der walisische­n Nationalis­ten, Liz Saville Roberts: „Wir haben sehr wohl verstanden, dass es dem Premiermin­ister nur darum geht, seinen No Deal durchzupei­tschen und an der Macht zu bleiben.“

Ebenfalls nicht zu verfangen schienen die Drohungen von Johnsons Führung gegen Abweichler aus den eigenen Reihen, denen der Fraktionsa­usschluss und ein Kandidatur­verbot bei der nächsten Wahl angedroht wurden. „Das ist meine Partei“, sagte Hammond. „Ich gehöre seit 45 Jahren den Konservati­ven an, und ich werde meine Partei verteidige­n.“Ex-Staatssekr­etär Sam Gyimah: „Meine Partei hat mich verlassen, nicht ich die Partei.“Ex-Justizmini­sterin Justin Greening erklärte, nicht mehr für ihre Partei zu kandidiere­n. Zahlreiche weitere Minister der Regierung May galten als Abtrünnige.

Auch ein letztes Gespräch von möglichen Rebellen mit dem Premier brachte keinen Umschwung. Johnson habe „keine überzeugen­den Antworten“und „keinen klaren Plan für Fortschrit­te in Gesprächen mit der EU“zu erkennen gegeben, hieß es.

Die bedrohlich­ste innenpolit­ische Krise Großbritan­niens erreicht ihren (bisherigen) Höhepunkt. Doch sie kann den obskuren Ablauf staatliche­r Prozeduren nicht ändern. Erster Tagesordnu­ngspunkt waren gestern „außenpolit­ische Fragen“, die an diesem Tag absolut niemanden interessie­rten. Erst gegen Abend wurde die Dringlichk­eitsdebatt­e erwartet, die Abstimmung sollte erst nach 21 Uhr Ortszeit erfolgen. Die eigentlich entscheide­nde Frage einer neuerliche­n Verschiebu­ng des Brexit sollte dann erst heute, Mittwoch, nach 15 Uhr zur Debatte stehen. Stimmt das Unterhaus auch hier gegen die Regierung, wird mit einem umgehenden Neuwahlant­rag von Johnson gerechnet.

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[ AFP] Boris Johnson verlor die Mehrheit im Unterhaus. Sein möglicher Ausweg sind Neuwahlen noch im Oktober, aber auch denen muss das Parlament zustimmen.

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