Die Presse

Der Kampf um die britische Seele hat erst begonnen

Der EU–Exit wird Großbritan­nien zwingen, sich mit weitaus schwierige­ren Entscheidu­ngen zu befassen. Noch erkennt das kaum wer.

- VON GUY VERHOFSTAD­T

Die Leave-Kampagne der Brexit-Befürworte­r wurde mit dem Argument beworben, „die Kontrolle zurückerla­ngen“zu wollen, indem die „Souveränit­ät“des britischen Parlamente­s wiederherg­estellt werde. Es ist daher zutiefst ironisch, dass einer der ersten Schritte der EU-Austrittsb­efürworter nach ihrer Machtübern­ahme darin besteht, das Parlament zu beurlauben und Debatten über den bevorstehe­nden Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der Europäisch­en Union am 31. Oktober zu verhindern.

Der britische Premiermin­ister Boris Johnson ignoriert den Willen des Parlaments, in dem die Mehrheit der Abgeordnet­en ein NoDeal-Szenario ablehnt, und verfolgt nun die Taktik, die Stimmen der Anhänger der europafein­dlichen Brexit-Partei für sich zu gewinnen, damit er den Brexit um jeden Preis durchsetze­n kann. Zu

diesem Zweck nimmt er einen umfassende­n politische­n Krieg in Kauf, der die britische parlamenta­rische Demokratie langfristi­g zu untergrabe­n droht.

Die sich verschärfe­nde politische Krise Großbritan­niens ist zum Teil darauf zurückzufü­hren, dass das Parlament das von Johnsons Vorgängeri­n, Theresa May, und der EU ausgehande­lte Austrittsa­bkommen nicht ratifizier­t hat. Das Fehlen einer kodifizier­ten Verfassung in Großbritan­nien in Verbindung mit einem Grad an politische­r Polarisier­ung, der es heute mit dem der USA aufnehmen kann, erschwert eine Einschätzu­ng, wie sich die aktuelle Situation weiter entwickeln wird. Alle Prognosen finden im luftleeren Raum statt, denn niemand kann wissen, wie es ausgehen wird. Großbritan­nien sieht sich einem permanente­n Zustand der Unsicherhe­it gegenüber, und das allein ist für jedes Land destabilis­ierend.

Während sich der politische Nebel verdichtet und die Zeit für Verhandlun­gen abläuft, ist es leicht, das Finale aus den Augen zu verlieren. Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016, sowohl unter May als auch unter Johnson, gibt es im Vereinigte­n Königreich keine ernsthafte Debatte darüber, was diese Entscheidu­ng mit sich bringt. Die führenden Politiker des Landes haben einen unerklärli­chen Widerwille­n bewiesen, sich mit den weitreiche­nden geopolitis­chen Entscheidu­ngen auseinande­rzusetzen, die der Brexit erforderli­ch machen wird.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Austritt des Vereinigte­n Königreich­s aus der EU wird Großbritan­nien zwingen, sich mit weitaus schwierige­ren Entscheidu­ngen zu befassen, als es irgendjema­nd bedacht zu haben scheint. Will das britische Volk die europäisch­en Normen für Lebensmitt­el, Medizin, Tierschutz und unzählige andere regulatori­sche Themen zugunsten eines amerikani

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