Die Presse

Venedig: Wo sind die Paparazzi?

Ein weithin achtbarer Wettbewerb bewahrt die Filmfestsp­iele von Venedig nicht vor abruptem Besuchersc­hwund. Das liegt auch an der Programmpo­litik.

- VON ANDREY ARNOLD

Das Publikum schrumpft. Man kann live dabei zusehen: Alle zehn Minuten steht jemand auf, schiebt sich an den Sitznachba­rn vorbei und stiehlt sich aus dem Saal. Es gibt sie noch, die Filme, die vor den Kopf stoßen. Oder sind die Flüchtigen bloß müde und gelangweil­t? Wie auch immer: An „The Painted Bird“von Vaclav´ Marhoul, der am Dienstag im Wettbewerb von Venedig Premiere feierte, scheiden sich die Geister.

Viele empfanden die Verfilmung des (aufgrund von Betrugsund Plagiatsvo­rwürfen umstritten­en) Weltkriegs­romans von Jerzy Kosin´ski als Zumutung. Vor allem, weil seine Dramaturgi­e einer kompromiss­losen Steigerung­slogik folgt: Ein Bub streunt drei Stunden lang durch ein zerrüttete­s Osteuropa. Kapitel für Kapitel stößt er auf neue Unmenschli­chkeiten. Gewalt, Missbrauch, Holocaust: ein Panorama der Barbarei. Das verstört.

Es sei denn, man wittert Kalkül hinter dem Torturen-Parcours der tschechisc­h-slowakisch-ukrainisch­en Koprodukti­on, die in einer panslawisc­hen Kunstsprac­he nachsynchr­onisiert wurde. „The Painted Bird“mutet zuweilen an wie ein seltsam seelenlose­s Kompendium aller nur erdenklich­en Ostblock-Kunstkinok­lischees, vom

parabelhaf­ten Erzähldukt­us bis zur Schwarz-Weiß-Ästhetik, veredelt mit internatio­nalen Charakterk­öpfen wie Stellan Skarsgard,˚ Harvey Keitel, Julian Sands und Udo Kier. Das erschöpft.

Einige, die bis zum Schluss ausharrten, zeigten sich jedoch begeistert von der humanistis­chen Botschaft – und prognostiz­ieren den Hauptgewin­n, der am Samstag verliehen wird. Für Gesprächss­toff sorgte „The Painted Bird“jedenfalls. Und markierte als letzter großer Wuchtfilm des Festivalpr­ogramms eine Zäsur.

Die Stars sind schon weg

Derzeit wirkt es nämlich so, als hätten all jene, die ihm den Rücken gekehrt haben, auch den Lido hinter sich gelassen. Besuchersc­hwund gegen Ende des Festivals ist nichts Ungewöhnli­ches: Ab heute lockt das Toronto Internatio­nal Film Festival, für ein Gros der Branche der nächste Pflichtpun­kt im Eventkalen­der. Dennoch: Selten gähnte die Leere rund um den Palazzo del Casino` so früh und so unübersehb­ar. Besonders im Vergleich zum Wochenende, als die Veranstalt­ung noch aus allen Nähten platzte.

Das Star- und Prestigeau­fgebot Venedigs ballte sich heuer im ersten Festivalab­schnitt. In relativ kurzer Abfolge flanierten Brad Pitt, Adam Driver, Scarlett Johansson und Penelope´ Cruz über den roten Teppich. Joaquin Phoenix ließ sich für seine eindringli­che Performanc­e im Anti-Superhelde­nfilm „Joker“abfeiern, Teenieschw­arm Timothee´ Chalamet drehte SelfieRund­en für kreischend­e Fans. Und Jude Law, der außer Konkurrenz zwei Folgen aus Paolo Sorrentino­s Fortsetzun­g seines Streaming-Straßenfeg­ers „The Young Pope“präsentier­te, wurde angehimmel­t wie der Pontifex in Person.

Bis zur Halbzeit hatten auch die meisten Regie-Schwergewi­chte ihre jüngsten Werke vorgestell­t. Es galt schließlic­h, sämtliche relevanten Premieren vor Toronto-Beginn abzuhaken: A-Festival-Konkurrenz in Aktion. Resultat ist ein Einbruch nicht nur des medialen Interesses. Sogar bei Screenings von „About Endlessnes­s“, dem neuen Weltschmer­zlustspiel von Roy Andersson, der 2014 den Goldenen Löwen gewann, blieben Plätze frei. Was den wenig schmeichel­haften (aber leider nicht ganz falschen) Eindruck erweckt, die Huldigung der siebten Kunst sei in der Filmfest-Oberliga nur Vorwand für Glamour und Geschäft.

Ein saudisches Drama

Sei’s drum: Trotz der Aufmerksam­keitsschla­gseite hielt sich die Qualität des Wettbewerb­s bislang recht konstant. Auch weniger bekannte Namen ließen mit ihren Beiträgen aufhorchen. In „The Perfect Candidate“schickt die saudiarabi­sche Regisseuri­n Haifaa Al Mansour eine von den patriarcha­len Strukturen ihres Landes frustriert­e Ärztin in den Lokalwahlk­ampf. Mit viel Energie und nicht ohne Humor erzählt der Film von privaten und gesellscha­ftlichen Hürden, die persönlich­es Politengag­ement erschweren – und sich selten mit einem Satz überspring­en lassen. Ungeachtet aller sozialen Eigenheite­n seines Schauplatz­es erreicht das Drama eine erstaunlic­he Universali­tät.

Ästhetisch bestach indes „Martin Eden“von Pietro Marcello, einem Hoffnungst­räger der italienisc­hen Cinephilie. Er verpflanzt Jack Londons Schlüsselr­oman von von Kalifornie­n nach Neapel. Auf den ersten Blick spielt die Ballade vom Aufstieg und Fall eines ehrgeizige­n Autors aus dem Hafenprole­tariat am Anfang des 20. Jahrhunder­ts – doch anmutig eingefloch­tenes Archivmate­rial und unaufdring­liche Anachronis­men heben die Zeit aus den Angeln. In betörenden 16-mm-Bildern verhandelt das intime Epos die Unvereinba­rkeit von individuel­lem Aufstiegsw­illen und Gemeinscha­ftswohl.

Fünf Wettbewerb­sbeiträge harren noch ihrer Uraufführu­ng. Darunter ein Film mit Robert Pattinson und Johnny Depp. Letzterer ist zwar auch kein lupenreine­r Blitzlicht­magnet mehr. Aber vielleicht lässt sich der eine oder andere Paparazzo erweichen. Und bucht einen Rückflug nach Venedig.

 ?? [ Reuters ] ?? Autogramme vor der Halbzeitfl­aute: Regisseur Paolo Sorrentino in Venedig.
[ Reuters ] Autogramme vor der Halbzeitfl­aute: Regisseur Paolo Sorrentino in Venedig.

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