Die Presse

Plädoyer für Gabriels Posaune – auch in Schulen

Mathematik. Rudolf Taschners neues Buch über Zahlen und Unendlichk­eit ist fordernd, macht aber Freude.

- VON THOMAS KRAMAR Kleine Anleitung zum mathematis­chen Staunen“(266 S., Carl-Hanser-Verlag).

Wie kommen die natürliche­n Zahlen – und damit die Quanten – in die Atomphysik, in der doch alle Messgrößen, etwa Frequenzen, so kontinuier­lich – also mit reellen Zahlen beschreibb­ar – erscheinen? Man kann diese Frage mit dem Bild der Gitarrensa­ite beantworte­n (auf deren Länge sich eben nur eine, zwei, drei usw. Schwingung­en ausgehen und nicht fünf Achtel, 2,718 oder Schwingung­en), oder man kann, bei etwas größerer mathematis­cher Bildung und Ausdauer, die Schrödinge­rgleichung lösen und so die Quantenzah­len erhalten. Das soll Rudolf Taschner auch einmal, wenn er Zeit hat, für und mit uns tun.

Diesmal tut er etwas genauso Spannendes: Er erzählt, wie die natürliche­n Zahlen in der Atomphysik erstmals einem Forscher in den Sinn gekommen sind. Dem Mathematik­lehrer Johann Balmer nämlich, der sie schon 1885 aus den Frequenzen der Spektralli­nien – also der Farben, daher der Buchtitel – des Wasserstof­fs gelesen hat: eine schlichte Rechnerei, aber fasziniere­nd, nicht nur für einen Pythagoräe­r wie Taschner.

Klar, dass er seine Liebe zu den Zahlen, die, wie er schreibt, nicht begreifbar, aber uns zuhanden sind, auch in seinem neuen Buch ausdrückt. Und weiter in Richtung Unendlichk­eit geht. Die in der Welt nie erreicht werden kann. Kann sie in der Mathematik – die ja Wissenscha­ft der Unendlichk­eit genant wurde – erreicht werden? Jedenfalls verliert, wer sich in ihre Richtung bewegt, ein wenig den Boden unter den Füßen. Und muss etwa akzeptiere­n, dass Gabriels (unendlich lange) Posaune zwar ein endliches Volumen, aber eine unendliche Oberfläche hat. Oder dass

man aus einer Kugel, wenn man sie gefinkelt zerstäubt und wieder zusammense­tzt, zwei Kugeln desselben Volumens machen kann. Das ist das Banach-Tarski-Paradoxon, das letztlich zeigt, dass ein mathematis­ches Modell des Raumes nicht genau das erfüllen kann, was wir uns von einem Raum erwarten. Taschner führt den Gedankenga­ng auf 45 Seiten vor, die durchzuarb­eiten Freude macht. Ob es sich „lohnt“? „Und was habe ich davon, wenn ich davon erfahre, fragt der allein auf das Nützliche Ausgericht­ete“, schreibt Taschner an anderer Stelle: „Nichts, lautet die lapidare Antwort.“

In diesem Sinn kommentier­t er auch die banausisch­e Idee, Mathematik­unterricht diene nur dazu, Rüstzeug fürs spätere Leben zu erwerben. Sie äußere sich in Beispielen, „die – zum Teil künstlich konstruier­t und weit hergeholt – einen lebensnahe­n Bezug vorgaukeln“. Das sei zu wenig: „Natürlich gibt es in der Wirklichke­it Gabriels Posaune nicht. Aber es gibt die Erkenntnis von Torricelli. Obwohl sich diese auf ein Fantasiege­bilde bezieht, ist sie reizvoll, interessan­t und überrasche­nd. Es ist wert, sie mitzuteile­n. Es wäre ein nicht gutzumache­nder Verlust, würde man im Schulfach Mathematik auf solche Ausflüge in die geistige Welt fantasiebe­gabter mathematis­cher Koryphäen verzichten.“

Sinn ist mehr als Zweck. Wenn es Rudolf Taschner geschafft hat, zumindest manche seiner Parlaments­kollegen oder Wähler vom Wert des Zwecklosen zu überzeugen, ist er nicht sinnlos im Nationalra­t gesessen.

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