Plädoyer für Gabriels Posaune – auch in Schulen
Mathematik. Rudolf Taschners neues Buch über Zahlen und Unendlichkeit ist fordernd, macht aber Freude.
Wie kommen die natürlichen Zahlen – und damit die Quanten – in die Atomphysik, in der doch alle Messgrößen, etwa Frequenzen, so kontinuierlich – also mit reellen Zahlen beschreibbar – erscheinen? Man kann diese Frage mit dem Bild der Gitarrensaite beantworten (auf deren Länge sich eben nur eine, zwei, drei usw. Schwingungen ausgehen und nicht fünf Achtel, 2,718 oder Schwingungen), oder man kann, bei etwas größerer mathematischer Bildung und Ausdauer, die Schrödingergleichung lösen und so die Quantenzahlen erhalten. Das soll Rudolf Taschner auch einmal, wenn er Zeit hat, für und mit uns tun.
Diesmal tut er etwas genauso Spannendes: Er erzählt, wie die natürlichen Zahlen in der Atomphysik erstmals einem Forscher in den Sinn gekommen sind. Dem Mathematiklehrer Johann Balmer nämlich, der sie schon 1885 aus den Frequenzen der Spektrallinien – also der Farben, daher der Buchtitel – des Wasserstoffs gelesen hat: eine schlichte Rechnerei, aber faszinierend, nicht nur für einen Pythagoräer wie Taschner.
Klar, dass er seine Liebe zu den Zahlen, die, wie er schreibt, nicht begreifbar, aber uns zuhanden sind, auch in seinem neuen Buch ausdrückt. Und weiter in Richtung Unendlichkeit geht. Die in der Welt nie erreicht werden kann. Kann sie in der Mathematik – die ja Wissenschaft der Unendlichkeit genant wurde – erreicht werden? Jedenfalls verliert, wer sich in ihre Richtung bewegt, ein wenig den Boden unter den Füßen. Und muss etwa akzeptieren, dass Gabriels (unendlich lange) Posaune zwar ein endliches Volumen, aber eine unendliche Oberfläche hat. Oder dass
man aus einer Kugel, wenn man sie gefinkelt zerstäubt und wieder zusammensetzt, zwei Kugeln desselben Volumens machen kann. Das ist das Banach-Tarski-Paradoxon, das letztlich zeigt, dass ein mathematisches Modell des Raumes nicht genau das erfüllen kann, was wir uns von einem Raum erwarten. Taschner führt den Gedankengang auf 45 Seiten vor, die durchzuarbeiten Freude macht. Ob es sich „lohnt“? „Und was habe ich davon, wenn ich davon erfahre, fragt der allein auf das Nützliche Ausgerichtete“, schreibt Taschner an anderer Stelle: „Nichts, lautet die lapidare Antwort.“
In diesem Sinn kommentiert er auch die banausische Idee, Mathematikunterricht diene nur dazu, Rüstzeug fürs spätere Leben zu erwerben. Sie äußere sich in Beispielen, „die – zum Teil künstlich konstruiert und weit hergeholt – einen lebensnahen Bezug vorgaukeln“. Das sei zu wenig: „Natürlich gibt es in der Wirklichkeit Gabriels Posaune nicht. Aber es gibt die Erkenntnis von Torricelli. Obwohl sich diese auf ein Fantasiegebilde bezieht, ist sie reizvoll, interessant und überraschend. Es ist wert, sie mitzuteilen. Es wäre ein nicht gutzumachender Verlust, würde man im Schulfach Mathematik auf solche Ausflüge in die geistige Welt fantasiebegabter mathematischer Koryphäen verzichten.“
Sinn ist mehr als Zweck. Wenn es Rudolf Taschner geschafft hat, zumindest manche seiner Parlamentskollegen oder Wähler vom Wert des Zwecklosen zu überzeugen, ist er nicht sinnlos im Nationalrat gesessen.