Kurz: „Sehe mich weder als Opfer noch als Täter“
Interview. 13 Antworten von Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz: Warum die ÖVP den „Falter“geklagt hat, warum Kurz erneut Experten in die Regierung holen würde und warum er gelegentlich den Rat von Wolfgang Schüssel einholt.
1 Wofür braucht man als Partei zwei Millionen Kugelschreiber? Hoffentlich nicht für alle „Presse“-Redakteure, die bei den Pressekonferenzen immer einen mitgehen lassen. Ist das so? Ich habe das beobachtet. In unserem Newsroom finden sich wenig Parteikulis. Ernsthaft: Wie kann man so viel Geld für Wahlgeschenke ausgeben, die jetzt nicht sonderlich sinnstiftend sind? Wir haben Folder, Plakate und Kugelschreiber – so wie das auch bei anderen üblich ist. Der Hauptvorwurf an die ÖVP lautet, dass sie – im Gegensatz zu den anderen Parteien – in den vergangenen Jahren im Dauerwahlkampf war, mit vielen Veranstaltungen und Social-Media-Aktivitäten. Das glaube ich nicht. Wir haben einfach viele Unterstützer. Und was die Vorwürfe des „Falter“betrifft: Wir haben geklagt und sind sicher, dass die Justiz hier am Ende des Tages eine richtige Entscheidung treffen wird. Das ist, wie mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Laut „Falter“wollte die ÖVP Wahlkampfkosten verschleiern. Wir lassen uns vieles gefallen, wir halten auch vieles aus. Es ist ja nicht so, dass wir jedes Medium klagen, das falsch berichtet. Aber alles hat seine Grenzen.
2 Ist es eigentlich mühsam, die eigenen Leute zu motivieren, wenn man in den Umfragen so weit voranliegt? Ich habe den Eindruck, dass eine gute Stimmung gut für die Bewegung ist. Es geht aber um Stimmen und nicht um Umfragen. Meine Sorge ist, dass nun alle darüber reden, mit wem die ÖVP koalieren wird – und am Ende gibt es vielleicht eine Mehrheit links der Mitte mit SPÖ, Grünen und Neos.
3 Mit wem will denn die ÖVP nach der Nationalratswahl koalieren? Wir werden die Entscheidung, sollten wir Erster werden, nach der Wahl treffen. Die Auswahl ist begrenzt. Begrenzt ist sie gar nicht. Es gibt drei Varianten. Nur scheint keiner mit keinem zu wollen. Mit der SPÖ haben Sie persönlich ein Problem, eine Dreierkoalition ist Ihnen und den Grünen zu mühsam, und die FPÖ hat – das haben Sie selbst gesagt – bewiesen, dass sie es nicht kann. Das ist jetzt ein bisschen viel Interpretation auf einmal. Es gibt bisher nur eine Partei, die uns ausgeschlossen hat: die Liste Jetzt. Alles andere wird man nach der Wahl sehen. Wir werden, sollten wir gewinnen, mit allen Parteien Sondierungsgespräche führen. Einige ältere Herren aus ÖVP und SPÖ machen sich im Hintergrund gerade für eine Rückkehr der Großen Koalition mit vertauschten Rollen stark. Wirklich? Welche? Michael Häupl, Erwin Pröll, Josef Pühringer. Mag schon sein. Es gibt unterschiedliche Ideen und Wünsche, je nachdem, mit wem man spricht. Wir würden den Weg, den wir eingeschlagen haben, gern fortsetzen.
4 Eine Dreierkoalition und eine Minderheitsregierung schließen Sie nicht aus? Schauen wir mal, welche Möglichkeiten es nach der Wahl gibt. Beim letzten Mal gab es nur eine, weil die SPÖ zwar regieren wollte, aber nicht mit uns. Wenn es dieses Mal mehrere Varianten gibt, ist das ein Vorteil. Wenn sich gar nichts findet, ist auch eine Minderheitsregierung eine Option für mich.
5 Sollen in der nächsten Regierung auch Experten vertreten sein? Auf jeden Fall. Ich bin manchmal überrascht, wenn so getan wird, als wäre das etwas Neues. Ich habe mit Leuten wie Heinz Faßmann, Margarete Schramböck oder Hartwig Löger schon bisher stark auf Expertise von außen gesetzt und damit gute Erfahrungen gemacht. Ein Experte als Innenminister ist auch möglich? Das ist genauso möglich wie in anderen Bereichen.
6 Sie haben der FPÖ früher vorgeworfen, die Opferkarte zu ziehen. Zurzeit zieht Sebastian Kurz die Opferkarte. Warum? Inwiefern? Sie seien abgewählt worden, man habe Ihnen das Misstrauen ausgesprochen, in der Wiener Medienblase seien Sie nicht wohlgelitten. Ob ich in der Wiener Medienblase wohlgelitten bin, können vielleicht Chefredakteure beurteilen, ist aber nicht das Wichtigste. Und was die Opferrolle betrifft: Ich fühle mich weder als Opfer noch als Täter. Dass wir abgewählt wurden, ist ein Faktum. Dass wir uns bemühen, jetzt wiedergewählt zu werden, genauso. Ich glaube, das ist normal in einer Demokratie.
7 Hat sich Christiane Hörbiger bei Ihnen gemeldet und gesagt, sie würde gern ein Video machen. Oder sind Sie auf sie zugegangen? Christiane Hörbiger unterstützt uns schon seit Jahren, war immer in gutem Kontakt mit uns. Sie hat sich auf unsere Bitte hin auch medial für uns starkgemacht. Einige behaupten, wir hätten ihr vorgegeben, was sie sagen soll. Das ist ein bisschen absurd: Jeder, der sie kennt, weiß, dass sie nicht auf den Mund gefallen ist und sehr genau weiß, was sie sagen möchte. Gibt es noch mehr solcher Videos? Es gibt Personen, die uns unterstützen. Einige sind prominent, einige nicht. Mich hat gestört, wie heftig Christiane Hörbiger beschimpft und in sozialen Medien herabgewürdigt wurde. Als sie den Michael Häupl oder den Rudi Hundstorfer unterstützt hat, ist das nicht passiert. 8 Warum polarisieren Sie eigentlich so? Das weiß ich nicht. Ich habe das Gefühl, dass es viele gibt, die uns mit allen Mitteln verhindern wollen. Warum ist das so? Anscheinend ist es in Österreich eine Erbpacht der Sozialdemokratie, den Kanzler zu stellen. Wenn man das als Nichtsozialdemokrat wagt, dann löst das Widerstand aus. Und wenn man es dann noch wie Wolfgang Schüssel oder auch wir wagt, mit der FPÖ zu koalieren, dann wird es noch härter.
9 Holen Sie sich Rat von Schüssel? Ich schätze ihn sehr, er ist ein sehr gebildeter und belesener Mensch. Insofern tausche ich mich gern mit ihm aus, in unregelmäßigen Abständen, ein paar Mal im Jahr.
10 Warum gibt es keine Pensionsreform unter Sebastian Kurz? Warum hat es keine gegeben? Warum wollen Sie das gesetzliche Pensionsantrittsalter nicht an die Lebenserwartung koppeln, womit auch das faktische steigen würde? Wir müssen zunächst einmal beim faktischen Pensionsantrittsalter vorankommen, das gesetzliche ist in Österreich in Ordnung. Bei Männern liegt es bei 65 Jahren, bei Frauen wird es schrittweise angehoben. Unser Problem ist das tatsächliche, nicht das gesetzliche. Da arbeiten wir hart daran, dass es steigt. Auch in der letzten Regierung haben wir hier einige Maßnahmen gesetzt. Wissen Sie, wer da ganz ähnlich argumentiert wie Sie? Weiß ich nicht, das werden viele sein. Pamela Rendi-Wagner. Es wäre schön, wenn wir zumindest mal bei einem Thema eine Gemeinsamkeit hätten. Diese Übereinstimmung wirkt fast sozialpartnerschaftlich-großkoalitionär. Nachdem wir von der SPÖ massiv kritisiert worden sind für unsere Maßnahmen, das tatsächliche Pensionsantrittsalter zu steigern, weiß ich nicht, ob das jetzt zu 100 Prozent zutrifft.
11 Militärexperten sind sich – auch international gesehen – einig, dass europäische Länder mehr Geld ausgeben müssen, wenn sie ihre Neutralität ernst nehmen. Warum wollen Sie die Ausgaben für Landesverteidigung nicht erhöhen? Wahrscheinlich, weil ich rechnen kann und unser Budget gut kenne aus den vergangenen beiden Jahren. Ich weiß, dass man alles, was man mehr ausgibt, wieder einsparen muss. Oder man macht wieder neue Schulden. Meine oberste Prämisse ist: keine neuen Schulden machen, wenn möglich, sogar einen Überschuss erwirtschaften. Alles, was durch Umschichtungen im Bereich der Verteidigungspolitik möglich ist, ist gut. Wir haben dort einen gewissen Bedarf. Aber den gibt es halt in vielen anderen Bereichen auch, von der Bildung über die Wissenschaft bis hin zum Sozialbereich.
12 Gab es in diesem Sommer, nachdem Sie als Bundeskanzler abgewählt wurden und durch die Lande getourt sind, Momente, in denen Sie sich gedacht haben, dass das Leben so viel schöner ist und dass Sie sich doch einen Job mit echter Work-Life-Balance suchen können? Um ehrlich zu sein, nicht. Ich bin durch die Lande getourt und habe von Tag zu Tag wieder mehr Lust auf Politik bekommen. Ich habe die Zeit nach der Abwahl genutzt, viele Gespräche geführt, mit den Menschen ausführlicher gesprochen. Und je mehr ich das gemacht habe, desto größer ist die Lust geworden, die Wahl zu gewinnen und wieder weiterzuarbeiten.
13 Was machen Sie, wenn es zu einer Koalition gegen Sie kommt? Gehen Sie dann in Opposition? Dann werde ich das zur Kenntnis nehmen.
Dieses Interview wurde vor Bekanntwerden des Hackerangriffs auf die ÖVP geführt.