Afghanistan vor totalem Bürgerkrieg
Analyse. Über die Köpfe der afghanischen Regierung hinweg verhandeln die USA mit den Taliban. Donald Trump erhofft sich vom US-Abzug einen Wahlschlager. Doch die Folgen könnten fatal sein.
Während der undurchschaubare US-Chefunterhändler Zalmay Khalilzad zu Wochenbeginn verkündete, man habe sich „grundsätzlich“mit den Taliban auf ein Rahmenabkommen über den Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan geeinigt, lässt die radikalislamische Terrortruppe ihre Gewehre und Bomben sprechen. Am Wochenende versuchte sie, die Provinzstädte Kunduz und Pol-e Khumri zu überrennen, am Montag und am gestrigen Donnerstag zündeten sie in Kabul mit Sprengstoff vollgestopfte Fahrzeuge.
Die Überfälle und Anschläge der Taliban forderten in den vergangenen Tagen Dutzende Todesopfer und weit über 100 Verletzte. Als der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahed darauf hingewiesen wurde, dass die Terroraktionen überwiegend afghanische Zivilisten in den Tod reißen würden, antwortete der nur, dann sollten sie sich halt nicht in der Nähe von Ausländerunterkünften niederlassen: nur ein weiterer Beweis für den Zynismus und die Menschenverachtung der Radikalislamisten.
Umso besorgter fragen Kritiker, ob die US-Regierung es wirklich riskieren wolle, sich militärisch aus Afghanistan zurückzuziehen. Sie verweisen dabei auf das Beispiel Vietnam, wo die USA mit den Nordvietnamesen am 27. Jänner 1973 das Pariser Abkommen unterzeichneten und einen „ehrenvollen Frieden“für Vietnam verkündeten, um am 30. April 1975 schmachvoll die letzten US-Vertreter vom Dach der US-Botschaft in Saigon zu evakuieren, während die Nordvietnamesen ins Zentrum der Stadt vorrückten. Und sie verweisen auf den Irak, wo Präsident Barack Obama – wie von Bagdad gefordert und noch von der Vorgängerregierung unter George W. Bush versprochen – 2011 den Großteil der US-Truppen abzog, was den Weg für den Siegeszug der Terrortruppe Islamischer Staat freimachte.
Schon klar, dass US-Präsident Donald Trump gern die noch rund 14.000 US-Soldaten so bald wie möglich aus Afghanistan heimholen würde. Nächstes Jahr wird ge
IIwählt – und ein Verweis darauf, dass er den längsten Krieg, den die USA je im Ausland führten, beendet habe, wäre ein toller Wahlschlager für Trump. Schließlich hat auch Richard Nixon 1972 mit dem Versprechen, die US-Soldaten aus Vietnam abzuziehen, seine Wiederwahl haushoch gewonnen.
Nach 18 Jahren ist die Bilanz des US-Einsatzes verheerend:
In dem seit 2001 andauernden Krieg verloren mehr als 2400 USSoldaten ihr Leben, über 20.000 wurden verwundet. Das Pentagon beziffert die bisherigen Kosten des Einsatzes am Hindukusch mit 760.000 Milliarden Dollar. Die Brown University, die ihre eigene Rechnung über die Kriegskosten angestellt hat, hält diese Zahl für viel zu niedrig. Wenn man die Versorgung der Afghanistan-Veteranen, die Ausgaben aller anderen US-Ministerien
für den Einsatz am Hindukusch und die Zinsen, die für Finanzierung des Krieges aufgebracht werden müssten, mit einrechne, beliefen sich die Gesamtkosten auf annähernd zwei Billionen Dollar.
Nach dem, was bisher von der Rahmenvereinbarung Khalilzads mit den Taliban bekannt ist, wollen die USA innerhalb von 135 Tagen 5000 Soldaten aus Afghanistan abziehen und fünf ihrer Stützpunkte an die afghanischen Streitkräfte übergeben. Khalilzad ist vor allem die Zusage der Taliban wichtig, dass Afghanistan nicht wie vor 2001 zu einem Rückzugsgebiet für islamistische Terrorgruppen wird. Abgesehen davon, dass eine solche Zusage der Radikalislamisten wohl nicht viel wert ist, sind allerlei andere Terrorgruppen wie der IS ja ohnehin schon in Afghanistan aktiv. Vor allem aber verhandelte Khalilzad über die Köpfe der gewählten afghanischen Regierung hinweg mit den Taliban, die die Regierenden in Kabul als „Marionetten“ausländischer Mächte verachten. Die Regierung muss dann schlucken, was Khalilzad ausgehandelt hat. Auch Henry Kissinger verhandelte einst in Paris über die Köpfe der verbündeten Regierung in Saigon hinweg.
Neun frühere US-Botschafter, die in Kabul stationiert oder mit Afghanistan befasst waren, haben diese Woche eindringlich vor einem „totalen Bürgerkrieg“in Afghanistan wie nach dem Abzug der Sowjets 1979 gewarnt, falls die USA die Unterstützung der Regierung in Kabul aufgäben. Allein was mit afghanischen Frauen passieren würde, hätten die Taliban wieder das Sagen, wollen sich Landeskenner gar nicht ausmalen.