Das Grauen eines deutschen Campingplatzes
Gericht. Sie nannten ihn „Onkel Addy“: Ein 56-Jähriger und sein Komplize sollen hundertfach Kinder misshandelt und dabei gefilmt haben. Nun wurden sie verurteilt. Die Aufarbeitung ist noch nicht zu Ende. Denn die Behörden versagten.
Der Campingplatz in Lügde, Nordrhein-Westfalen, ist schön gelegen – ein „idealer Ausgangspunkt für Wanderungen“, wie es auf der Homepage heißt. Doch das Idyll täuscht. Dieser Ort war über viele Jahre Tatort eines Verbrechens, das jede Vorstellungskraft sprengt. Gestandenen Anwälten wurde schlecht, als sie sich durch den Fall wühlten. Die Richterin erklärte, Worte wie „abscheulich, monströs und widerwärtig“reichten nicht aus. Am Ende bleibe nur „Fassungslosigkeit“.
Andreas V. (56) und Mario S. (34) sollen sich laut Anklage über viele Jahre hinweg an Kindern vergangen haben. Beide filmten ihre Taten. Beide legten ein Geständnis ab. Das jüngste Opfer war vier Jahre alt. Am Dienstag wurde V. wegen 223 Fällen und S. wegen 48 Fällen schweren sexuellen Missbrauchs, darunter Vergewaltigungen, verurteilt. V. muss für dreizehn, S. für zwölf Jahre ins Gefängnis. Beide kommen danach in Sicherheitsverwahrung. Es gibt 32 junge Opfer, die teils über viele Jahre missbraucht wurden – deshalb die dreistellige Zahl an Fällen. Oder wie es die Richterin formulierte: „Sie haben 32 Kindheiten zerstört.“Die Dunkelziffer könnte freilich noch höher sein.
Die Aufarbeitung einer der größten Missbrauchsfälle der deutschen Nachkriegsgeschichte ist mit dem Urteilsspruch jedenfalls nicht zu Ende: Es gibt neben dem Grauen von Lügde, den bestialischen Verbrechen, auch den schlimmen Verdacht, dass ein Gutteil der Taten zu verhindern gewesen wäre. Die Ermittler gingen Hinweisen nicht nach, Beweismaterialien verschwanden. Längst beschäftigt der Fall einen Untersuchungsausschuss im Landesparlament von Nordrhein-Westfalen.
Sie nannten ihn „Addy“, „Onkel Addy“: Der Mann, der in einer Baracke auf dem Campingplatz wohnte, galt als Kinderfreund. Eltern vertrauten ihm ihren Nachwuchs an. Er beschenkte die Kleinen mit Süßigkeiten, machte mit ihnen Ausflüge. Er errichtete ein System von „Belohnung und Bedrohung“, wie das einmal der Anwalt von Nebenklägern der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“sagte: Wer nicht spure, sich den Eltern anvertraue, den würden böse Geister heimsuchen. Im Rückblick wirkt vieles merkwürdig, zum Beispiel, dass das Jugendamt diesem „Addy“, schon älter, jahrelang Hartz-IV-Empfänger und eben in einer Baracke auf einem Campingplatz beheimatet, noch vor drei Jahren die Betreuung eines siebenjährigen Mädchens anvertraute. Über diese Pflegetochter dürfte er dann auch weitere Opfer angelockt haben.
Ahnte wirklich niemand etwas? Im Juni enthüllte die „Süddeutsche Zeitung“, dass schon im Jahr 2000 ein Hinweis zu Andreas V. eingegangen war. Aber er wurde offenbar nicht verfolgt. 2016 schlugen eine Jobcenter-Mitarbeiterin, ein anderer Vater sowie eine Kindergartenpsychologin Alarm. Wieder passierte nicht viel. Erst als sich im Herbst 2018 ein neunjähriges Mädchen ihrer Mutter anvertraute, kollabierte das Missbrauchssystem, das „Onkel Addy“errichtet hatte. Eine Gutachterin attestierte ihm später eine „tief verwurzelte Neigung“zu solchen Straftaten: „Ich sehe eine hohe Rückfallgefahr, an der auch eine lange Gefängnisstrafe nichts ändert.“Deshalb die Sicherheitsverwahrung.
Heuer verschwand dann Beweismaterial, ein Koffer und eine Hülle mit etwa 155 Datenträgern. Nordrhein-Westfalens Innenminister, Herbert Reul (CDU), sprach offen von „Polizeiversagen“. Immer wieder kam es zu Pannen, Fehlern, Stümpereien. Nein, der Fall Lügde scheint noch lang nicht restlos aufgearbeitet.