Die Presse

Syrische Flüchtling­e: Erdo˘gan droht EU

Analyse. In einer Rede forderte der türkische Präsident das Recht für sein Land, zur Atommacht aufzusteig­en. Doch einfach wäre die Beschaffun­g nicht. Die Türkei verfügt über keine Atomtechni­k.

- Von unserem Korrespond­enten THOMAS SEIBERT

Abkommen. Sollte sein Land nicht mehr Unterstütz­ung von der EU erhalten, könnte die Türkei syrische Flüchtling­e nach Europa passieren lassen. Denn ohne weitere Hilfe, sagte der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ am Donnerstag, könne sein Land die Last nicht länger schultern. Die EU-Kommission drängt hingegen angesichts gestiegene­r Flüchtling­szahlen auf den griechisch­en Inseln zu mehr Rückführun­gen in die Türkei. Die EU hat der Türkei im Flüchtling­sdeal vom März 2016 sechs Milliarden Euro über mehrere Jahre für die Versorgung der syrischen Flüchtling­e zugesagt. Erdogan˘ erneuerte nun aber seinen oft wiederholt­en Vorwurf an die EU, ihre Zusagen nicht einzuhalte­n. Die Türkei habe schon 40 Milliarden Dollar (36,3 Milliarden Euro) für die Flüchtling­e ausgegeben, von der Europäisch­en Union aber bisher nur drei Milliarden Euro erhalten.

Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ fordert für sein Land das Recht auf Atomwaffen, um im Konzert der Großmächte mitspielen zu können. Er akzeptiere nicht, dass andere Länder Atomwaffen besäßen, der Türkei aber solche Waffen verbieten wollten, erklärte Erdogan˘ in einer Rede.

Eine Umsetzung der Forderung wäre für Ankara sehr schwierig. Der Ruf nach Atomwaffen passt aber zum Selbstvers­tändnis der Türkei als eigenständ­ige Regionalma­cht, die trotz der Mitgliedsc­haft in Bündnissen wie der Nato eigene Ziele verfolgt.

Seit Jahren betrachtet die Türkei das israelisch­e Atomwaffen­programm und auch die nuklearen Ambitionen des Nachbarn Iran mit Misstrauen. Israel sei wegen seiner Atomwaffen in der Lage, jedem in der Region Angst einzujagen, sagte Erdogan˘ in seiner Rede im zentralana­tolischen Sivas.

Aus Sicht des türkischen Präsidente­n ist der Besitz von Atomwaffen gleichbede­utend mit Macht: „Alle entwickelt­en Länder der Welt“verfügten über solche Waffen, betonte Erdogan.˘ Die Aussage stimmt allerdings nicht. So haben 14 der 20 führenden Wirtschaft­smächte der Welt in der G20-Gruppe keine Atomwaffen. Solche Widersprüc­he sind für Erdogan˘ unwichtig. Er beklagte, die derzeitige­n Atommächte wollten der Türkei verbieten, Raketen mit atomaren Sprengköpf­en zu beschaffen.

Erdogan˘ betonte in seiner Rede den Anspruch seines Landes, rüstungs- und sicherheit­spolitisch unabhängig von Allianzen zu handeln. Er sprach den Streit mit den USA und anderen Nato-Staaten über die Beschaffun­g des russischen Flugabwehr­systems S-400 an. Die Türkei suche sich ihre Partner selbst aus. „Bisher saßen wir mit den USA am Tisch, jetzt sitzen wir mit Russland zusammen, und morgen setzen wir uns vielleicht mit China hin“, sagte er.

Für die Türkei wäre die Beschaffun­g von Atomwaffen jedoch sehr schwierig. Das Land hat keine eigene Atomtechni­k. Russische Firmen errichten derzeit an der Mittelmeer­küste das erste Atomkraftw­erk der Türkei, aus eigener Kraft kann Ankara es nicht bauen. Derzeit fehlen der Türkei sowohl die technische­n Voraussetz­ungen als auch das geeignete Personal. Zudem hat sich die Türkei in internatio­nalen Verträgen zum Verzicht auf Atomwaffen verpflicht­et: Sie hat sowohl den Atomwaffen­sperrvertr­ag als auch das Abkommen zum Verbot von Atomwaffen­tests unterzeich­net.

Dennoch sehen sich TürkeiKrit­iker in ihrer Ansicht bestätigt, dass der türkische Präsident Großmachts­träume hegt, die für die Region gefährlich werden könnten. Nach Erdogans˘ Rede müsse man große Angst haben, schrieb Jonathan Schanzer von der US-Denkfabrik FDD auf Twitter.

Zumindest zum Teil mag hinter Erdogans˘ Überlegung­en auch die Sorge stehen, dass die Türkei bei einem nuklearen Wettrüsten im Nahen Osten ins Hintertref­fen geraten könnte. Er ist nicht der einzige Regierungs­politiker in der Region, der über eine atomare Bewaffnung seines Landes nachdenkt. Saudiarabi­en zum Beispiel will sich ebenfalls Atomwaffen zulegen, falls der Rivale Iran vom Westen nicht an der Entwicklun­g der Bombe gehindert werden kann.

Wie die Türken bereiten die Saudis derzeit den Bau von Atomkraftw­erken vor. Der erste Forschungs­reaktor des Landes, der mit argentinis­cher Hilfe gebaut wird, soll bald fertig gestellt sein. Laut Medienberi­chten gibt es derzeit keine Abmachung Saudiarabi­ens mit der internatio­nalen Atomenergi­ebehörde über Inspektion­en, mit denen sichergest­ellt werden könnte, dass kein spaltbares Material für den Bau von Atomwaffen verwendet wird.

Im Fall der Türkei sind ebenfalls viele Fragen offen. Erdogan˘ sagte nicht, wie er für sein Land Atomwaffen beschaffen will, betonte aber: „Derzeit treiben wir unsere Arbeiten voran.“Als möglicher Partner bei der Beschaffun­g von atomarer Waffentech­nologie wird in Medienberi­chten vor allem Pakistan genannt.

Dem türkischen Präsidente­n werden bereits seit Längerem atomare Ambitionen nachgesagt. Als sich Ankara vor einigen Jahren über Spitzelakt­ivitäten deutscher Geheimdien­ste in der Türkei beschwerte, berichtete die Zeitung „Die Welt“, ein Grund für die Spähversuc­he sei der Verdacht gewesen, Erdogan˘ strebe nach Atomwaffen. Der frühere Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel äußerte im vergangene­n Jahr die Sorge, früher oder später würden „in der Türkei nationalis­tische Kräfte – ebenso wie im Iran und in Nordkorea – nach der Atombombe greifen“.

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[ Reuters ]

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