Syrische Flüchtlinge: Erdo˘gan droht EU
Analyse. In einer Rede forderte der türkische Präsident das Recht für sein Land, zur Atommacht aufzusteigen. Doch einfach wäre die Beschaffung nicht. Die Türkei verfügt über keine Atomtechnik.
Abkommen. Sollte sein Land nicht mehr Unterstützung von der EU erhalten, könnte die Türkei syrische Flüchtlinge nach Europa passieren lassen. Denn ohne weitere Hilfe, sagte der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ am Donnerstag, könne sein Land die Last nicht länger schultern. Die EU-Kommission drängt hingegen angesichts gestiegener Flüchtlingszahlen auf den griechischen Inseln zu mehr Rückführungen in die Türkei. Die EU hat der Türkei im Flüchtlingsdeal vom März 2016 sechs Milliarden Euro über mehrere Jahre für die Versorgung der syrischen Flüchtlinge zugesagt. Erdogan˘ erneuerte nun aber seinen oft wiederholten Vorwurf an die EU, ihre Zusagen nicht einzuhalten. Die Türkei habe schon 40 Milliarden Dollar (36,3 Milliarden Euro) für die Flüchtlinge ausgegeben, von der Europäischen Union aber bisher nur drei Milliarden Euro erhalten.
Der türkische Präsident, Recep Tayyip Erdogan,˘ fordert für sein Land das Recht auf Atomwaffen, um im Konzert der Großmächte mitspielen zu können. Er akzeptiere nicht, dass andere Länder Atomwaffen besäßen, der Türkei aber solche Waffen verbieten wollten, erklärte Erdogan˘ in einer Rede.
Eine Umsetzung der Forderung wäre für Ankara sehr schwierig. Der Ruf nach Atomwaffen passt aber zum Selbstverständnis der Türkei als eigenständige Regionalmacht, die trotz der Mitgliedschaft in Bündnissen wie der Nato eigene Ziele verfolgt.
Seit Jahren betrachtet die Türkei das israelische Atomwaffenprogramm und auch die nuklearen Ambitionen des Nachbarn Iran mit Misstrauen. Israel sei wegen seiner Atomwaffen in der Lage, jedem in der Region Angst einzujagen, sagte Erdogan˘ in seiner Rede im zentralanatolischen Sivas.
Aus Sicht des türkischen Präsidenten ist der Besitz von Atomwaffen gleichbedeutend mit Macht: „Alle entwickelten Länder der Welt“verfügten über solche Waffen, betonte Erdogan.˘ Die Aussage stimmt allerdings nicht. So haben 14 der 20 führenden Wirtschaftsmächte der Welt in der G20-Gruppe keine Atomwaffen. Solche Widersprüche sind für Erdogan˘ unwichtig. Er beklagte, die derzeitigen Atommächte wollten der Türkei verbieten, Raketen mit atomaren Sprengköpfen zu beschaffen.
Erdogan˘ betonte in seiner Rede den Anspruch seines Landes, rüstungs- und sicherheitspolitisch unabhängig von Allianzen zu handeln. Er sprach den Streit mit den USA und anderen Nato-Staaten über die Beschaffung des russischen Flugabwehrsystems S-400 an. Die Türkei suche sich ihre Partner selbst aus. „Bisher saßen wir mit den USA am Tisch, jetzt sitzen wir mit Russland zusammen, und morgen setzen wir uns vielleicht mit China hin“, sagte er.
Für die Türkei wäre die Beschaffung von Atomwaffen jedoch sehr schwierig. Das Land hat keine eigene Atomtechnik. Russische Firmen errichten derzeit an der Mittelmeerküste das erste Atomkraftwerk der Türkei, aus eigener Kraft kann Ankara es nicht bauen. Derzeit fehlen der Türkei sowohl die technischen Voraussetzungen als auch das geeignete Personal. Zudem hat sich die Türkei in internationalen Verträgen zum Verzicht auf Atomwaffen verpflichtet: Sie hat sowohl den Atomwaffensperrvertrag als auch das Abkommen zum Verbot von Atomwaffentests unterzeichnet.
Dennoch sehen sich TürkeiKritiker in ihrer Ansicht bestätigt, dass der türkische Präsident Großmachtsträume hegt, die für die Region gefährlich werden könnten. Nach Erdogans˘ Rede müsse man große Angst haben, schrieb Jonathan Schanzer von der US-Denkfabrik FDD auf Twitter.
Zumindest zum Teil mag hinter Erdogans˘ Überlegungen auch die Sorge stehen, dass die Türkei bei einem nuklearen Wettrüsten im Nahen Osten ins Hintertreffen geraten könnte. Er ist nicht der einzige Regierungspolitiker in der Region, der über eine atomare Bewaffnung seines Landes nachdenkt. Saudiarabien zum Beispiel will sich ebenfalls Atomwaffen zulegen, falls der Rivale Iran vom Westen nicht an der Entwicklung der Bombe gehindert werden kann.
Wie die Türken bereiten die Saudis derzeit den Bau von Atomkraftwerken vor. Der erste Forschungsreaktor des Landes, der mit argentinischer Hilfe gebaut wird, soll bald fertig gestellt sein. Laut Medienberichten gibt es derzeit keine Abmachung Saudiarabiens mit der internationalen Atomenergiebehörde über Inspektionen, mit denen sichergestellt werden könnte, dass kein spaltbares Material für den Bau von Atomwaffen verwendet wird.
Im Fall der Türkei sind ebenfalls viele Fragen offen. Erdogan˘ sagte nicht, wie er für sein Land Atomwaffen beschaffen will, betonte aber: „Derzeit treiben wir unsere Arbeiten voran.“Als möglicher Partner bei der Beschaffung von atomarer Waffentechnologie wird in Medienberichten vor allem Pakistan genannt.
Dem türkischen Präsidenten werden bereits seit Längerem atomare Ambitionen nachgesagt. Als sich Ankara vor einigen Jahren über Spitzelaktivitäten deutscher Geheimdienste in der Türkei beschwerte, berichtete die Zeitung „Die Welt“, ein Grund für die Spähversuche sei der Verdacht gewesen, Erdogan˘ strebe nach Atomwaffen. Der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel äußerte im vergangenen Jahr die Sorge, früher oder später würden „in der Türkei nationalistische Kräfte – ebenso wie im Iran und in Nordkorea – nach der Atombombe greifen“.