Israel. Wenige Tage vor der Wahl rief der Premier mit der Ankündigung, das Jordantal zu annektieren, internationale Kritik hervor. Netanjahu spielt mit dem Frieden in Nahost
Wien/Jerusalem. Benjamin Netanjahu kämpft bei den von ihm vom Zaun gebrochenen Neuwahlen am Dienstag in Israel an vielerlei Fronten: Die Wahlversprechen sind groß, und der Einsatz im Wahlpoker ist hoch – auch der ganz persönliche. Bodyguards zerrten ihn am Dienstagabend von der Bühne in der südisraelischen Küstenstadt Ashdod, als schriller Bombenalarm ertönte. Das Abwehrsystem „Iron Dome“fing die vom Gazastreifen abgefeuerten Raketen auf Ashdod und Ashkelon ab, und der Premier konnte seine Wahlkampfkundgebung nach einigen Minuten unter „Bibi“-Sprechchören fortsetzen. Israels Luftwaffe flog daraufhin Vergeltungsschläge gegen Hamas-Ziele in Gaza.
Ob die Attacken aus dem Gazastreifen bereits die Reaktion der palästinensischen Fundamentalisten auf die Ankündigung Netanjahus in einer TV-Rede in Ramat Gan wenige Stunden zuvor waren, in der er den Wählern die Annexion des fruchtbaren Jordantals bis zum nördlichen Teil des Toten Meers verheißen hatte, das rund ein Drittel des Westjordanlands umfasst? Netanjahu sieht ein Zeitfenster, eine einmalige Chance, wie er sagt. „Seit dem Sechstagekrieg haben wir noch nie eine solche Gelegenheit gehabt, und ich zweifle, ob sie in den nächsten 50 Jahren noch einmal kommt.“ Pflichtgemäßer Protest
Die Palästinenser-Führung in Ramallah heulte auf vor Empörung und erklärte den Nahost-Friedensprozess umgehend für tot. Doch die Friedensbemühungen liegen ohnehin seit Jahren im Koma. Von der Arabischen Liga bis zur EU, von Saudiarabien bis zur Türkei verurteilten Staaten und internationale Institutionen – ein wenig pflichtgemäß – die Intentionen des Premiers, die einen Völkerrechtsbruch markieren. Ankara prangerte Israel als „rassistischen Apartheid-Staat“an.
Der von der Trump-Regierung nach der Israel-Wahl angekündigte und allseits in Zweifel gezogene Nahost-Friedensplan wäre vollends Makulatur, der Palästinenserstaat eine Schimäre. Doch in Israel selbst besteht so etwas wie ein nationaler Konsens über das Jordantal als nationale Verteidigungslinie und das Westjordanland als Pufferzone.
Das Versprechen Netanjahus folgt einer langjährigen Strategie, vor der Wahl die rund 600.000 jüdischen Siedler in den Palästinensergebieten zu umgarnen. Mehrmals initiierte er schon ähnliche Vorstöße im Westjordanland, und Kritiker von rechts wie Ayelet Shaked wittern darin bloße Wahlkampfmanöver. Im März holte er sich von US-Präsident Donald Trump indes rechtzeitig vor den Wahlen im April sogar den Sanktus für die Souveränität Israels über die Golanhöhen – ein Triumph für den Wahlkämpfer.
Patt zwischen Likud und Blau-Weiß
Die Knesset-Wahl endete mit einem Patt zwischen Likud und dem Wahlbündnis BlauWeiß unter Ex-Generalstabschef Benny Gantz. Die Koalitionsverhandlungen scheiterten am Widerstand des Ex-Außenministers Avigdor Lieberman, in eine Koalition der Rechtsparteien einzutreten. Er hatte gefordert, die Wehrpflicht auch auf die ultraorthodoxen Israelis auszuweiten. Die Ausnahmeregelung sorgt in weiten Teilen der Bevölkerung für Unmut. In der Folge plädierte Netanjahu für Neuwahlen – um Gantz nicht die Chance zu Koalitionsgesprächen zu geben, die aufgrund der Mehrheitsverhältnisse von vornherein als aussichtslos galten.
Im Juli avancierte Netanjahu zum am längsten amtierenden Premier Israels, mit mehr als 13 Jahren überflügelte er den Rekord des Gründervaters, David Ben-Gurion. Allerdings droht Netanjahu Ungemach. Am 2. Oktober hat Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit eine Anhörung des Premiers in drei Korruptionsfällen angesetzt, bei der Netanjahu das Ende seiner politischen Karriere droht und womöglich sogar eine Haftstrafe.
Die Ausgangslage gegenüber dem Frühjahr ist unverändert: Likud und Blau-Weiß liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die religiösen Parteien sind fest im Lager Netanjahus, und Avigdor Liebermans Partei Israel Beitenu könnte das Zünglein an der Waage spielen. Der Premier scheut indessen keine Mittel, seine Mehrheit abzusichern. Er fädelte Deals mit Kleinparteien ein, schwor seine Likud-Partei zu Solidarität mit ihm ein und putscht die Stimmung im Land auf.
Schreckgespenst Iran
In der Vorwoche besuchte er als erster Premier seit mehr als 20 Jahren die Stadt Hebron, in der eine Minderheit von mehreren Hundert fanatischen Siedlern die Stellung gegenüber 120.000 Palästinensern hält. Hebron werde niemals „judenrein“sein, versprach Netanjahu auf Deutsch in Anspielung auf die Nazi-Terminologie. Eine von seiner Regierung angestrengte Erlaubnis für Fotound Filmaufnahmen in Wahllokalen, wie sie im April bereits Aufruhr hervorgerufen hatte, schmetterte das Höchstgericht ab, mit dem der Premier im Dauerclinch liegt.
Zugleich holte der Premier das Schreckgespenst eines Kriegs mit dem Iran hervor. Längst führt Israel in Syrien, im Libanon und in Gaza einen Stellvertreterkrieg mit der Hisbollah und der Hamas, den vom Iran gesponserten Terrormilizen. Zuletzt kam es nach Angriffen Israels zu einer Eskalation. In einer Pressekonferenz präsentierte Netanjahu schließlich Satellitenaufnahmen geheimer, inzwischen zerstörter Entwicklungsstätten für das iranische Atomwaffenprogramm.
Der Anspruch auf das Jordantal und die jüdischen Siedlungen im Westjordanland ist nunmehr der emotionale Höhepunkt seiner Wahlkampagne, in dem der 69-Jährige um seine politische Zukunft kämpft.