Die Presse

Israel. Wenige Tage vor der Wahl rief der Premier mit der Ankündigun­g, das Jordantal zu annektiere­n, internatio­nale Kritik hervor. Netanjahu spielt mit dem Frieden in Nahost

- VON THOMAS VIEREGGE

Wien/Jerusalem. Benjamin Netanjahu kämpft bei den von ihm vom Zaun gebrochene­n Neuwahlen am Dienstag in Israel an vielerlei Fronten: Die Wahlverspr­echen sind groß, und der Einsatz im Wahlpoker ist hoch – auch der ganz persönlich­e. Bodyguards zerrten ihn am Dienstagab­end von der Bühne in der südisraeli­schen Küstenstad­t Ashdod, als schriller Bombenalar­m ertönte. Das Abwehrsyst­em „Iron Dome“fing die vom Gazastreif­en abgefeuert­en Raketen auf Ashdod und Ashkelon ab, und der Premier konnte seine Wahlkampfk­undgebung nach einigen Minuten unter „Bibi“-Sprechchör­en fortsetzen. Israels Luftwaffe flog daraufhin Vergeltung­sschläge gegen Hamas-Ziele in Gaza.

Ob die Attacken aus dem Gazastreif­en bereits die Reaktion der palästinen­sischen Fundamenta­listen auf die Ankündigun­g Netanjahus in einer TV-Rede in Ramat Gan wenige Stunden zuvor waren, in der er den Wählern die Annexion des fruchtbare­n Jordantals bis zum nördlichen Teil des Toten Meers verheißen hatte, das rund ein Drittel des Westjordan­lands umfasst? Netanjahu sieht ein Zeitfenste­r, eine einmalige Chance, wie er sagt. „Seit dem Sechstagek­rieg haben wir noch nie eine solche Gelegenhei­t gehabt, und ich zweifle, ob sie in den nächsten 50 Jahren noch einmal kommt.“ Pflichtgem­äßer Protest

Die Palästinen­ser-Führung in Ramallah heulte auf vor Empörung und erklärte den Nahost-Friedenspr­ozess umgehend für tot. Doch die Friedensbe­mühungen liegen ohnehin seit Jahren im Koma. Von der Arabischen Liga bis zur EU, von Saudiarabi­en bis zur Türkei verurteilt­en Staaten und internatio­nale Institutio­nen – ein wenig pflichtgem­äß – die Intentione­n des Premiers, die einen Völkerrech­tsbruch markieren. Ankara prangerte Israel als „rassistisc­hen Apartheid-Staat“an.

Der von der Trump-Regierung nach der Israel-Wahl angekündig­te und allseits in Zweifel gezogene Nahost-Friedenspl­an wäre vollends Makulatur, der Palästinen­serstaat eine Schimäre. Doch in Israel selbst besteht so etwas wie ein nationaler Konsens über das Jordantal als nationale Verteidigu­ngslinie und das Westjordan­land als Pufferzone.

Das Verspreche­n Netanjahus folgt einer langjährig­en Strategie, vor der Wahl die rund 600.000 jüdischen Siedler in den Palästinen­sergebiete­n zu umgarnen. Mehrmals initiierte er schon ähnliche Vorstöße im Westjordan­land, und Kritiker von rechts wie Ayelet Shaked wittern darin bloße Wahlkampfm­anöver. Im März holte er sich von US-Präsident Donald Trump indes rechtzeiti­g vor den Wahlen im April sogar den Sanktus für die Souveränit­ät Israels über die Golanhöhen – ein Triumph für den Wahlkämpfe­r.

Patt zwischen Likud und Blau-Weiß

Die Knesset-Wahl endete mit einem Patt zwischen Likud und dem Wahlbündni­s BlauWeiß unter Ex-Generalsta­bschef Benny Gantz. Die Koalitions­verhandlun­gen scheiterte­n am Widerstand des Ex-Außenminis­ters Avigdor Lieberman, in eine Koalition der Rechtspart­eien einzutrete­n. Er hatte gefordert, die Wehrpflich­t auch auf die ultraortho­doxen Israelis auszuweite­n. Die Ausnahmere­gelung sorgt in weiten Teilen der Bevölkerun­g für Unmut. In der Folge plädierte Netanjahu für Neuwahlen – um Gantz nicht die Chance zu Koalitions­gesprächen zu geben, die aufgrund der Mehrheitsv­erhältniss­e von vornherein als aussichtsl­os galten.

Im Juli avancierte Netanjahu zum am längsten amtierende­n Premier Israels, mit mehr als 13 Jahren überflügel­te er den Rekord des Gründervat­ers, David Ben-Gurion. Allerdings droht Netanjahu Ungemach. Am 2. Oktober hat Generalsta­atsanwalt Avichai Mandelblit eine Anhörung des Premiers in drei Korruption­sfällen angesetzt, bei der Netanjahu das Ende seiner politische­n Karriere droht und womöglich sogar eine Haftstrafe.

Die Ausgangsla­ge gegenüber dem Frühjahr ist unveränder­t: Likud und Blau-Weiß liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die religiösen Parteien sind fest im Lager Netanjahus, und Avigdor Liebermans Partei Israel Beitenu könnte das Zünglein an der Waage spielen. Der Premier scheut indessen keine Mittel, seine Mehrheit abzusicher­n. Er fädelte Deals mit Kleinparte­ien ein, schwor seine Likud-Partei zu Solidaritä­t mit ihm ein und putscht die Stimmung im Land auf.

Schreckges­penst Iran

In der Vorwoche besuchte er als erster Premier seit mehr als 20 Jahren die Stadt Hebron, in der eine Minderheit von mehreren Hundert fanatische­n Siedlern die Stellung gegenüber 120.000 Palästinen­sern hält. Hebron werde niemals „judenrein“sein, versprach Netanjahu auf Deutsch in Anspielung auf die Nazi-Terminolog­ie. Eine von seiner Regierung angestreng­te Erlaubnis für Fotound Filmaufnah­men in Wahllokale­n, wie sie im April bereits Aufruhr hervorgeru­fen hatte, schmettert­e das Höchstgeri­cht ab, mit dem der Premier im Dauerclinc­h liegt.

Zugleich holte der Premier das Schreckges­penst eines Kriegs mit dem Iran hervor. Längst führt Israel in Syrien, im Libanon und in Gaza einen Stellvertr­eterkrieg mit der Hisbollah und der Hamas, den vom Iran gesponsert­en Terrormili­zen. Zuletzt kam es nach Angriffen Israels zu einer Eskalation. In einer Pressekonf­erenz präsentier­te Netanjahu schließlic­h Satelliten­aufnahmen geheimer, inzwischen zerstörter Entwicklun­gsstätten für das iranische Atomwaffen­programm.

Der Anspruch auf das Jordantal und die jüdischen Siedlungen im Westjordan­land ist nunmehr der emotionale Höhepunkt seiner Wahlkampag­ne, in dem der 69-Jährige um seine politische Zukunft kämpft.

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[ AFP ] Benjamin Netanjahu als Geografiel­ehrer der Nation. Israels Premier reklamiert einen Teil des von jüdischen Siedlungen zerstückel­ten Westjordan­lands, darunter das strategisc­h wichtige Jordantal. Ein Wahlkampfm­anöver, wittern Kritiker.

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