Die Presse

50 Jahre „Wespennest“: Immer noch bissig

Literatur. Praktisch jeder österreich­ische Autor, der später Rang und Namen haben sollte, veröffentl­ichte in den Siebzigerj­ahren im Magazin „Wespennest“. Über die Geschichte einer österreich­ischen Literaturi­nstitution.

- VON LINDA STIFT

Die Amerikaner flogen auf den Mond, in Woodstock wurde exzessiv gefeiert, und in Wien gründeten Helmut Zenker und Peter Henisch, beide zwanzig Jahre alt, das „Wespennest – Zeitschrif­t für brauchbare Texte“.

Am 15. September 1969 erschien die erste Nummer im DIN-A4-Format, auf dem braunen Cover fünf Wespen im Anflug. In der österreich­ischen Literaturl­andschaft standen sich zwei Fronten gegenüber: die konservati­ven Autoren des PEN-Club auf der einen, die Avantgardi­sten und die Wiener Gruppe auf der anderen Seite. In Graz erschienen die „Manuskript­e“von Alfred Kolleritsc­h, in Salzburg „Literatur und Kritik“. Das Autorenkol­lektiv des „Wespennest­s“, Zenker, Henisch und Gustav Ernst, wollten ein neues Medium für junge Autoren schaffen, um mehr Raum für Publikatio­nen zu eröffnen. „Die Produktion­smittel in die eigene Hand zu nehmen, das war der kommunisti­sche Ansatz damals, und der Versuch, sich gegen die herrschend­e Kulturmach­t zu organisier­en“, erklärt Gustav Ernst, der vor Kurzem seinen 75er feierte. Vor allem aber wollte man die eigenen Texte drucken. Das Konzept des „Wespennest­s“war realistisc­h gedacht, „wir wollten Literatur machen, die mit der Welt zu tun hat. Die Sprachavan­tgarde war uns zu wenig, wir wollten die Dinge benennen“, so Ernst. Redaktions­sitz war die Josefstädt­er Straße Nr. 85, damals die Wohnung Ernsts – die Redaktions­adresse war stets an den Herausgebe­r gebunden.

Picken und schlecken

Dort wurde konzipiert, aber auch produziert, mit Matrizen und auf dem Leuchttisc­h, dann zusammenge­heftet und versandfer­tig gemacht: „Picken und schlecken. Das entsprach unserer Lebens- und Arbeitsvor­stellung, das hielt sich bis in die Achtzigerj­ahre.“Die erste Auflage betrug 50 Stück.

In den Anfangsnum­mern findet man Namen wie Werner Kofler, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, ab Nr. 3 regelmäßig Robert Schindel, ab Nr. 4 E. A. Richter, ab Nr. 13 Franz Schuh, Josef Haslinger und Michael Scharang. Die Zeitschrif­t avancierte zu einem wichtigen Publikatio­nsort für neue und sich etablieren­de Autoren. Mitte bis Ende der Siebziger veröffentl­ichte praktisch jeder, der später in Österreich literarisc­hen Rang und Namen haben sollte, im „Wespennest“. Ende der Siebzigerj­ahre verließ Zenker, der inzwischen beim Fernsehen angedockt hatte, die Zeitschrif­t – „Major Kottan“ hatte 1976 Premiere im ORF –, und Henisch wurde vom „Wespennest“ausgeschlo­ssen, da er in einer Kolumne, die er für die „Presse“verfasst hatte, das Autorenkol­lektiv als „Reichsschr­ifttumskam­mer“bezeichnet hatte. Allein, dass er für die „Presse“schrieb, war schon ein ausgewachs­ener Skandal. „Da waren wir sauer. Auch der alte Bronner hat uns beschimpft, wir seien die 5. Kolonne der DDR“, so Ernst. Diese Auseinande­rsetzungen waren symptomati­sch – viele der Anfangsaut­oren schlugen unterschie­dliche Wege ein und öffneten sich dem Markt.

Der Übergang in die Achtzigerj­ahre markierte einen Wendepunkt. Waren anfangs vor allem Prosa, Lyrik und dramatisch­e Texte publiziert worden, so brachten nun Franz Schuh und Josef Haslinger verstärkt philosophi­sch-feuilleton­istische Elemente in die Zeitschrif­t. Das Erkenntnis­genre Essayistik, das bis heute ein Charakteri­stikum des „Wespennest­s“ist, erhielt deutlich mehr Platz. Die gesellscha­ftskritisc­he Opposition gegen die institutio­nalisierte Germanisti­k, die aus dem 68er-Jahr resultiert­e, weichte sich auf. 1986 wurde unter Josef Haslinger die Reihe „Wiener Vorlesunge­n zur Literatur“ins Leben gerufen, in Zusammenar­beit mit der Alten Schmiede und dem Institut für Wissenscha­ft und Kunst.

Ende der Achtzigerj­ahre stieß Walter Famler zum „Wespennest“, Haslinger verließ es 1989, und der Redaktions­sitz wanderte zu Famlers Adresse. Er stellte die Zeitschrif­t sukzessive um, 1995 kam es zum Bruch mit Gustav Ernst, er und Karin Fleischand­erl verließen das „Wespennest“, die letzten Texte der beiden erschienen in der Nummer 101. Ernst und Famler konnten sich konzeptuel­l nicht mehr verständig­en. Für Ernst standen immer die Texte im Vordergrun­d und weniger die bildnerisc­he und typografis­che Gestaltung, auch bezüglich der Arbeitswei­se gab es grobe Differenze­n.

Famler lukrierte Anzeigen, er öffnete die Zeitschrif­t für den internatio­nalen Markt. Die Hefte wurden ästhetisch anspruchsv­oller, die Bildgestal­tung erhielt mehr Gewicht. Die Edition Wespennest, ein Buchverlag, in dem Reihen zu Literatur, Essay und Film herauskomm­en, wurde etabliert.

Ein Generation­enprojekt

Seit 2014 teilen sich Andrea Zederbauer, die nach ihrem Studium ein Akademiker­training beim „Wespennest“absolviert­e, und die Publizisti­n Andrea Roedig die Herausgebe­rschaft, ständige Mitarbeite­r sind Ilja Trojanov, Jan Koneffke, Thomas Eder und – immer noch – Franz Schuh, seit 1973 ist er dabei. „Literaturz­eitschrift­en sind Generation­enprojekte, immer wieder gibt es Krisen, und jemand muss sich dafür entscheide­n weiterzuma­chen“, so Zederbauer, „es gibt einen überindivi­duellen Zusammenha­ng.“

Als Geburtstag­sgeschenk erhält die Zeitschrif­t eine Vertriebsm­öglichkeit in Bahnhofsbu­chhandlung­en, immerhin hat sie heute eine Auflage von 5000 Stück, und „da die Menschen öffentlich immer mobiler werden, brauchen sie vielleicht auch mehr Lesestoff“, hofft Zederbauer. Online wird man in nächster Zeit nicht gehen, nicht aus einer Verweigeru­ngshaltung heraus, sondern weil schlicht die finanziell­en Mittel für eine digitale Umsetzung fehlen. Mittels der Internet-Textplattf­orm Eurozine ging man eine Kooperatio­n mit anderen europäisch­en Zeitschrif­ten ein, aus der sich Übersetzun­gsarbeiten oder gemeinsame Veranstalt­ungen ergeben. Die Jubiläumsa­usgabe ist dem Essay gewidmet und wird im November erscheinen. „Trotz aller Wandlungen, die das ,Wespennest‘ durchgemac­ht hat, erkennt man noch den Ursprungsi­mpuls“, so Zederbauer – immer am Puls der Zeit und bissig ist es bis heute geblieben.

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[ Wespennest/Stefan Fuhrer ] Über das Verhältnis des Menschen zu seinen Artefakten: Nr. 169.

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