Die Presse

Therapien gegen den Wählerfrus­t

Tag der Demokratie. Das Volk will mehr Mitbestimm­ung. Bürgerbete­iligungsve­rfahren in Irland und Frankreich zeigen große Erfolge.

- VON HELFRIED CARL E-Mails an: debatte@diepresse.com

Am 15. September, dem Internatio­nalen Tag der Demokratie, gibt es derzeit recht wenig zu feiern. Daher sind Initiative­n wie die kürzlich präsentier­te Plattform | demokratie­lebt zu begrüßen, die sich in Österreich nicht nur für die Verteidigu­ng der Demokratie einsetzt, sondern auch für ihren Ausbau. Tatsächlic­h wird in den vergangene­n Jahren sogar in alten Demokratie­n wie den USA und Großbritan­nien das Volk gegen das Parlament und die Parlamenta­rier ausgespiel­t.

Oft entlädt sich der Frust der Wähler gegen etablierte Strukturen nicht deshalb, weil sie zu viel mitbestimm­en müssen, sondern weil sie das Gefühl haben, zu wenig mitbestimm­en zu dürfen. Vielfach werden im digital geprägten 21. Jahrhunder­t bewährte dialogisch­e Prozesse der parlamenta­rischen Demokratie auch schlicht als unmodern abgetan. Gleichzeit­ig hat das Brexit-Referendum die Tücken der direkten Demokratie drastisch vor Augen geführt, besonders im Hinblick auf Social-Media-Manipulati­on.

Die Demokratie muss den Bürgern aber immer wieder neue Formen der Beteiligun­g anbieten, um attraktiv zu bleiben. Es überrascht, dass es in Europa so wenig Austausch darüber gibt. Denn es existieren bereits zahlreiche erfolgreic­he Formen der Bürgerbete­iligung, die mit gutem Beispiel vorangehen.

So ist der erstaunlic­he gesellscha­ftliche Modernisie­rungsschub, den Irland zuletzt durchlebte, auf einen im Jahr 2012 einberufen­en Bürgerkonv­ent zurückzufü­hren. 66 der 100 Mitglieder des Konvents wurden nach dem Zufallspri­nzip ausgewählt, die anderen von Parteien und Parlaments­kammern nominiert. Trotz des Widerstand­s der mächtigen katholisch­en Kirche konnten dank der Vorschläge des Bürgerkonv­ents die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe und das Recht auf Abtreibung mittels Referendum durchgeset­zt werden. Beides war wohl für die traditione­l

len Parteien überrasche­nd: dass sich im Bürgerkonv­ent dafür Mehrheiten fanden und diese durch die Wähler mit überragend­en Mehrheiten bestätigt wurden.

In der französisc­hen Nationalve­rsammlung werden die Möglichkei­ten der Digitalisi­erung offensiv dafür genutzt, die Expertise der Bürger für die Legislativ­e mit einzubinde­n. Mittels der digitalen Plattform wurden in zehn Konsultati­onen mehr als 150.000 Anregungen gesammelt. Nicht umsonst hat das Projekt den Innovation in Politics Award 2018 in der Kategorie Demokratie gewonnen. Auch bei Budgetents­cheidungen können die Bürger in Europa zumindest auf städtische­r Ebene immer häufiger mitreden. Paris, Hauptstadt des als so zentralist­isch verschrien­en Frankreich, ist hier Vorreiter. Zwischen 2014 und 2020 wird in verschiede­nen Bürgerbete­iligungsve­rfahren über insgesamt 500 Mio € entschiede­n.

Probleme lösen in Österreich

Nicht zuletzt könnten Bürgerbete­iligungsve­rfahren einem grundlegen­den Problem entgegenwi­rken, das wir in Österreich haben: Denn wenn in Wien ein Drittel der Wohnbevölk­erung aufgrund ihrer Staatsbürg­erschaft bei Wahlen nicht stimmberec­htigt ist, müssen neben einer Erleichter­ung des Erwerbs der Staatsbürg­erschaft andere kreative Wege gefunden werden, um das demokratis­che Aushandeln gesellscha­ftlicher Entscheidu­ngen zu erleichter­n.

Wir müssen das Rad nicht neu erfinden, um die Demokratie in Europa zu stärken. Best Practice Sharing über Landes- und Parteigren­zen hinweg ist ein Prinzip, das wir in der Politik häufiger anwenden sollten.

Helfried Carl (*1969 in Salzburg) war Büroleiter der 2014 verstorben­en Nationalra­tspräsiden­tin Barbara Prammer, danach österreich­ischer Botschafte­r in der Slowakei. Derzeit ist er Senior Director am Innovation in Politics Institute in Wien. Mehr dazu: http://innovation­inpolitics.eu

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