Seisenbacher vor Prozess
Wie es mit dem zweifachen JudoOlympiasieger weitergeht.
19. Dezember 2016. Alle waren in den Großen Schwurgerichtssaal des Straflandesgerichts Wien gekommen. Der Richter, die Staatsanwältin, der Verteidiger. Alle bis auf einen. „Mir scheint, es fehlt jemand“, stellte Richter Christoph Bauer nüchtern fest. Niemand konnte damals ahnen, dass dieser Jemand zwei Jahre und neun Monate fehlen würde. Seit Donnerstag ist Peter Seisenbacher wieder da – zurück in Wien.
Der zweifachen Judo-Olympiasieger ist, wie berichtet, am 7. September bei dem Versuch festgenommen worden, seinen Fluchtort, die Ukraine, mit einem gefälschten Pass in Richtung Polen zu verlassen. Die Auslieferung nach Österreich folgte. Die Verhängung der U-Haft war zuletzt nur noch Formsache. Dass Seisenbacher nicht schon vor seiner Verhandlung wegen mutmaßlicher Sexualstraftaten in U-Haft genommen worden war, sollte sich als folgenschwere Fehleinschätzung der Staatsanwaltschaft Wien erweisen.
Nun wird der abgebrochene Prozess wieder aufgenommen. Das Gericht wird demnächst einen Verhandlungstermin festsetzen. Die Vorwürfe, zu denen sich Seisenbacher bisher nicht öffentlich geäußert hat, wiegen schwer: Tatort war laut Anklage der Wiener Judoklub, in dem der heute 59-Jährige den Nachwuchs trainierte. Zudem soll es bei Trainingslagern in Güssing (Burgenland) oder auf der Insel Krk (Kroatien) sexuelle Übergriffe gegeben haben.
Das erste Opfer war gemäß der Anklage ein erst neun Jahre altes Mädchen. Es soll 1997 von Seisenbacher bedrängt worden sein. Als die Unmündige elf Jahre alt war, soll der Trainer sexuelle Handlungen vorgenommen haben, die die Staatsanwaltschaft als schweren sexuellen Missbrauch qualifiziert. Bis zum 14. Geburtstag – so lang ist man unmündig – sollen weitere Tathandlungen vorgenommen worden sein. Auch beim Kontakt zu einer 13-jährigen Judoschülerin soll es im Sommer 2004 zu sexuellen Handlungen gekommen sein. Im August 2011 soll Seisenbacher eine 16-Jährige bedrängt haben. In diesem Fall lautet die Anklage auf versuchten Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses.
Im Fall eines Schuldspruchs droht dem Angeklagten (für ihn gilt die Unschuldsvermutung) eine bis zu zehnjährige Haftstrafe. Nach einer allfälligen Verurteilung stehen dem einstigen Olympiastar freilich Rechtsmittel zu.
Gold in Los Angeles und Seoul
Mit Seisenbacher erlebte Österreichs Judosport in den 1980erJahren ein ungeahntes Hoch. Der bullige, 1,86 Meter große Judoka (7. Dan) galt schnell als der Hoffnungsträger in dieser japanischen Kampfsportart. Direkt, kompromisslos respektive konsequent, von seinen Handlungen überzeugt, so skizzieren ihn einstige Wegbegleiter. Deshalb trainierte er gern in Fernost, um sich auf Land, Leute und Kultur einzustimmen. Auf der Matte saßen seine Griffe: Olympiagold in Los Angeles 1984, WM-Triumph 1985, erneut Olympiagold 1988 in Seoul als erster Judoka überhaupt, dem das gelang – der Wiener und Schützling der Trainer George Kerr und Norbert Herrmann war ein Star.
Doch nur einen Monat nach dem Seoul-Triumph trat Seisenbacher bereits ab. Mit Gegnern kannte der gelernte Goldschmied weiterhin keinen Pardon. Seine mitunter raue Gangart brachten Österreichs dreimaligen Sportler des Jahres als Sporthilfe-General oder als Teamtrainer schnell in die Bredouille. Einmal war es eine Ohrfeige in Leonding, dann eine Unbeherrschtheit in Verbandsangelegenheiten. Aber selbst Sperren konnten den Mürrischen nicht aufhalten, schon gar nicht, als er als Präsident des Wiener Judoverbands die Weichen (2005–2010) neu stellen wollte – und immer wieder auf Widerstand traf.
Den Vater zweier Kinder zog es dank seiner Topkontakte ins Ausland. Er wurde Trainer in Georgien, holte in London 2012 sogar Olympiagold und half, fürstlich entlohnt, dem Judosport in Aserbaidschan auf die Beine. 2016 gewann das Land bei den Sommerspielen in Rio zweimal Silber – Seisenbacher war erneut der gefeierte, der geachtete Mann auf der Tatami-Matte. All das ist angesichts der Anschuldigungen derzeit nicht von Belang.