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ZUWANDERUN­G BILDUNG ARBEITSMAR­KT GESUNDHEIT EUROPA

- VON RAINER NOWAK E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

Leitartike­l. Statt den Wahlkampf auf eine Person zuzuspitze­n, wären Sachthemen wie Bildung zu verhandeln.

Wer hätte gedacht, dass wir uns einmal die Balkanrout­enschließu­ng zurücksehn­en. Denn hinter dem Begriff steckte ein großes zukunftsbe­stimmendes Thema für Europa und die Welt. Wie wollen wir mit Migration aufgrund von Kriegen, Naturkatas­trophen und Armut umgehen? Müssen wir Europa abschotten, so das überhaupt möglich ist? Oder sollen wir uns eingestehe­n, dass Völkerwand­erungen in der Vergangenh­eit und in Zukunft zur Weltgeschi­chte gehören, diese nur bedingt zu verhindern sind und wir uns daher mit den Folgen beschäftig­en sollten? Auch wenn diese Debatte polemisch, populistis­ch oder naiv geführt wurde, es war eine inhaltlich­e Kontrovers­e, die uns im Wahlkampf vor zwei Jahren beschäftig­te. Wer übrigens glaubt, dass sie aus den Köpfen der Wähler einfach verschwund­en ist, irrt schlicht.

Nun haben wir 2019 ein anderes Problem, das für die einen lösbar ist, für die anderen ziemlich direkt in die Apokalypse führt. Einige heiße Sommer und eine Bewegung von entschloss­enen Schülern hat uns den Klimawande­l (wieder) ins Bewusstsei­n gebracht, er wird von dort nicht mehr so schnell verschwind­en. So gesehen haben wir wieder ein wichtiges und ernstes Wahlkampft­hema, das aber einen sonderbar peinlichen Effekt hat: Plötzlich versuchen alle, Grüne zu sein. Norbert Hofer entdeckt seinen grünen Daumen. Sebastian Kurz ließ sich im Parteiarch­iv das alte Konzept der ökosoziale­n Marktwirts­chaft ausheben. Die Neos packen den Stier bei den Hörnern und fordern gar eine CO2-Steuer. Die SPÖ positionie­rt sich als grüne Alternativ­e, die auch den Pendlern nicht wehtun kann. Peter Pilz ist auch noch ein bisschen da und hofft auf ein Plätzchen im Ausgedinge, wenn die Grünen wieder ihren Hof bezogen haben. Denn eigentlich machen alle ein bisschen Wahlkampf für die Originalen. Vielleicht wird es die Partei im Land sein, die gleichzeit­ig den Doppelspru­ng schafft: in den Nationalra­t und in die Regierung. Soll heißen: Alle wollen den Klimawande­l verhindern oder verlangsam­en, nur die Methodik ist umstritten. Geleugnet wird er nicht einmal mehr von der FPÖ. Zumindest nicht offiziell.

Aber sonst ist die Politik mit sich selbst beschäftig­t – mit dem Streit über die Spielregel­n derselben. Es wird ein Wahlkampf über den Wahlkampf geführt, wie viel er kosten darf, ob und wer für ihn spenden darf und was man dafür verrechnen darf. Um nicht falsch verstanden zu werden: Das gehört zur Politik und ist

wichtig. Die Übertretun­g der Wahlkampfk­ostenoberg­renze von ÖVP und – weniger – von FPÖ und SPÖ ist insofern ein massives österreich­isches Problem, als die Übertretun­g sehenden Auges und ohne Skrupel vollzogen wurde. Und dann gab es eine schlawiner­hafte „Entschuldi­gung“.

Aber sonst herrscht in diesem Wahlkampf eine beschämend­e Inhaltslee­re, der wir in dieser Zeitung mit aufbereite­ten Sachtexten gegenhalte­n wollen. Bevor nun Thomas Drozda das Mobiltelef­on ergreift, um einen bösen Tweet abzusetzen: Ja stimmt, die SPÖ thematisie­rt auch die drängenden Probleme Pflegenots­tand – ja, den gibt es – und das leistbare Wohnen, das seltener wurde. Und ja, Beate Meinl-Reisinger, die Neos haben auch gute Anträge im Parlament eingebrach­t, denen die anderen dann oft nicht zustimmten. Die stärksten Emotionen in diesem Wahlkampf löst aber etwas beziehungs­weise jemand ganz anderer aus: Sebastian Kurz. Seine Person polarisier­t das gesamte politische Spektrum – viel stärker als seine Vorgänger, egal, ob Kanzler oder ÖVP-Chef bis zurück zu Wolfgang Schüssel. Daher setzen ihn Gegner und Unterstütz­er zur Mobilisier­ung der eigenen Wähler ein. Und ja, Kurz hat sich seine vielen Gegner auch verdient, redlich und weniger redlich.

Nichtsdest­oweniger lassen Medien und Politiker die Zuspitzung auf eine einzelne Person zu, die die gesamte Debatte – je nach Standpunkt – überstrahl­t oder verdeckt. Beginnen wir mit dem allerwicht­igsten Thema: der Bildung. (Ja, Neos und SPÖ plakatiere­n sie jetzt endlich wieder.) Wir haben noch immer nicht geklärt, wie die Schulen der Zukunft aussehen sollen und wie viele Lehrer dort was, wie und wie lang (!) unterricht­en sollen. In Städten wie Wien ist die zentrale Aufgabe der Schule längst nicht mehr nur Ausbildung, sondern Integratio­n und mitunter Sozialhilf­e. Wir haben auch nicht ehrlich über das künftige Sozialsyst­em gesprochen: Wie groß und dicht soll es gestrickt sein? In seiner jetzigen Ausprägung ist es weder finanzierb­ar noch gesellscha­ftlich sinnvoll. Das gleiche gilt für das Pensionssy­stem, dessen echte umfassende Reform ÖVP, SPÖ und FPÖ in erschrecke­nd ähnlicher Wortwahl ausschließ­en. Und hat irgendjema­nd vor diesen Regionalwa­hlen ein Wort über internatio­nale Politik gehört? Wo ist die künftige Position Österreich­s? Am Rockzipfel in Berlin? Oder halb bewundernd in Moskau? Mit Knicks? Hinter vorgehalte­ner Hand begeistert in Washington? Und war da was mit Brexit und einer noch immer nur teilhandlu­ngsfähigen EU? Oder haben wir die Sicherheit­s- und Außenpolit­ik als erstes Land nach Brüssel delegiert? Das wäre zumindest eine Linie.

Aber ich will nicht alles schlechtsc­hreiben: Dass ÖVP, FPÖ und Neos gemeinsam eine Schuldenbr­emse im Nationalra­tsausschus­s beschlosse­n haben, ist zumindest ein kleiner Lichtblick.

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