Die Presse

EU steckt in der Rechtsstaa­ts-Sackgasse fest

Grundwerte. In Brüssel verfestigt sich die Einsicht in die Wirkungslo­sigkeit des Artikel-7-Verfahrens wegen Verstößen gegen den Rechtsstaa­t. Effektiver wäre der Entzug von Geld durch die Kommission. Dagegen wehren sich die Osteuropäe­r.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Voller Zuversicht trat Jose´ Manuel Barroso, der damalige Präsident der Europäisch­en Kommission, am 11. März 2014 im Pressesaal des Europäisch­en Parlaments zu Straßburg vor die Mikrofone und verkündete ein neues Mittel, um das Prinzip der Rechtsstaa­tlichkeit – einen der Grundpfeil­er der EU – besser zu schützen. Im Rahmen eines Frühwarnme­chanismus werde die Kommission fortan in einen Dialog mit Mitgliedst­aaten treten, bei denen es Sorge um die politische Unabhängig­keit der Justiz gibt. Die mächtige Sanktion des Entzugs der Stimmrecht­e im Rat, festgeschr­ieben in Artikel 7 des EU-Vertrags, solle auf diese Weise gar nicht erst nötig werden. „Heute stellt die Kommission sicher, dass wir auf der Grundlage unserer Erfahrunge­n der vergangene­n Jahre Rechtsstaa­tlichkeits­probleme in den Mitgliedst­aaten künftig abwenden und nachhaltig lösen können“, sprach Barroso.

Fünfeinhal­b Jahre danach erweist sich die damalige Zuversicht des Kommission­spräsident­en als naiv. Der Rechtsstaa­tsdialog der Kommission mit den Mitgliedst­aaten ist über den Status einer lästigen administra­tiven Pflichtübu­ng nie hinausgeko­mmen und wird demnächst still begraben. Entgegen Barrosos Erwartung musste man sehr wohl Artikel 7 aktivieren: im Dezember 2017 gegen Polen, ein Jahr darauf gegen Ungarn. Doch in beiden Fällen verlaufen die Verfahren im Nirgendwo. Weder findet sich die erforderli­che Mehrheit, zu Sanktionen gegen Warschau und Budapest voranzusch­reiten. Noch zeigt sich ein Ausweg, um die Verfahren zu beenden. Schlimmer noch: Die Artikel-7-Verfahren überschatt­en, wie Diplomaten mehrerer Mitgliedst­aaten beklagen, die sonstige Arbeit im Rat, dem Entscheidu­ngsgremium der Mitgliedst­aaten. „Es ist für die Ratsarbeit nicht gut. Alles ist wahnsinnig aufgeladen“, sagte eine Diplomatin am Freitag. „Wir sind in einer Endlosschl­eife, wo wir nicht wissen, wie wir herauskomm­en.“Ein anderer Diplomat pflichtete ihr bei: „Artikel 7 wird als lästig empfunden. Aber wir sehen nicht, dass Polen oder Ungarn etwas geändert hätte.“

Über mögliche Alternativ­en werden sich die Europamini­ster der Mitgliedst­aaten am Montag in Brüssel bei ihrem Ratstreffe­n auseinande­rsetzen. Zwei liegen auf dem Tisch: erstens ein von Deutschlan­d und Belgien vorgeschla­gener Mechanismu­s gegenseiti­ger Bewertung des Zustands der Rechtsstaa­tlichkeit durch die nationalen Regierunge­n selbst. Erfunden hat diese Idee einer Peer Review der bisherige belgische Außenminis­ter und designiert­e Justizkomm­issar, Didier Reynders. Die Peer Review soll den erwähnten Rechtsstaa­tsdialog der Kommission ersetzen.

Doch er ist mit zwei ineinander verkettete­n Problemen behaftet. Erstens verursacht eine ernsthafte gegenseiti­ge Bewertung viel Arbeit. Vom jeweiligen EU-Ratsvorsit­zland ist das nicht zu bewältigen. Also braucht es ein ständiges Sekretaria­t. Dafür böte sich jenes des Rats oder die Kommission an. Doch verbaten sich zweitens in den bisherigen Diskussion­en Ungarn und Polen jegliche Einbindung der EU-Institutio­nen. Die Peer Review solle rein zwischenst­aatlich bleiben. Der Hintergeda­nke: Wenn das Thema im geschlosse­nen Klub der Regierunge­n bleibt, kann man es dort auch diskret kleinhalte­n.

Der zweite Vorschlag ist gehaltvoll­er. Auf Initiative mehrerer Nettozahle­r legte die Kommission im Mai 2018 den Entwurf einer Verordnung vor, welche die Auszahlung von EU-Fördermitt­eln in einem Mitgliedst­aat stoppen würde, falls rechtsstaa­tliche Mängel deren korrekte Verwendung infrage zögen. Hier käme die Kommission in eine starke Rolle: Ihr Vorschlag des Einfrieren­s von EUMitteln könnte im Rat nur mit qualifizie­rter Mehrheit gestoppt werden – also praktisch nie. Klar, dass sich die osteuropäi­schen Staaten bisher dagegen wehren. Doch von deutscher Seite hört man eine klare Ansage: „Es wird keinen mehrjährig­en EU-Finanzrahm­en ohne so einen Mechanismu­s geben.“

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