EU steckt in der Rechtsstaats-Sackgasse fest
Grundwerte. In Brüssel verfestigt sich die Einsicht in die Wirkungslosigkeit des Artikel-7-Verfahrens wegen Verstößen gegen den Rechtsstaat. Effektiver wäre der Entzug von Geld durch die Kommission. Dagegen wehren sich die Osteuropäer.
Voller Zuversicht trat Jose´ Manuel Barroso, der damalige Präsident der Europäischen Kommission, am 11. März 2014 im Pressesaal des Europäischen Parlaments zu Straßburg vor die Mikrofone und verkündete ein neues Mittel, um das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit – einen der Grundpfeiler der EU – besser zu schützen. Im Rahmen eines Frühwarnmechanismus werde die Kommission fortan in einen Dialog mit Mitgliedstaaten treten, bei denen es Sorge um die politische Unabhängigkeit der Justiz gibt. Die mächtige Sanktion des Entzugs der Stimmrechte im Rat, festgeschrieben in Artikel 7 des EU-Vertrags, solle auf diese Weise gar nicht erst nötig werden. „Heute stellt die Kommission sicher, dass wir auf der Grundlage unserer Erfahrungen der vergangenen Jahre Rechtsstaatlichkeitsprobleme in den Mitgliedstaaten künftig abwenden und nachhaltig lösen können“, sprach Barroso.
Fünfeinhalb Jahre danach erweist sich die damalige Zuversicht des Kommissionspräsidenten als naiv. Der Rechtsstaatsdialog der Kommission mit den Mitgliedstaaten ist über den Status einer lästigen administrativen Pflichtübung nie hinausgekommen und wird demnächst still begraben. Entgegen Barrosos Erwartung musste man sehr wohl Artikel 7 aktivieren: im Dezember 2017 gegen Polen, ein Jahr darauf gegen Ungarn. Doch in beiden Fällen verlaufen die Verfahren im Nirgendwo. Weder findet sich die erforderliche Mehrheit, zu Sanktionen gegen Warschau und Budapest voranzuschreiten. Noch zeigt sich ein Ausweg, um die Verfahren zu beenden. Schlimmer noch: Die Artikel-7-Verfahren überschatten, wie Diplomaten mehrerer Mitgliedstaaten beklagen, die sonstige Arbeit im Rat, dem Entscheidungsgremium der Mitgliedstaaten. „Es ist für die Ratsarbeit nicht gut. Alles ist wahnsinnig aufgeladen“, sagte eine Diplomatin am Freitag. „Wir sind in einer Endlosschleife, wo wir nicht wissen, wie wir herauskommen.“Ein anderer Diplomat pflichtete ihr bei: „Artikel 7 wird als lästig empfunden. Aber wir sehen nicht, dass Polen oder Ungarn etwas geändert hätte.“
Über mögliche Alternativen werden sich die Europaminister der Mitgliedstaaten am Montag in Brüssel bei ihrem Ratstreffen auseinandersetzen. Zwei liegen auf dem Tisch: erstens ein von Deutschland und Belgien vorgeschlagener Mechanismus gegenseitiger Bewertung des Zustands der Rechtsstaatlichkeit durch die nationalen Regierungen selbst. Erfunden hat diese Idee einer Peer Review der bisherige belgische Außenminister und designierte Justizkommissar, Didier Reynders. Die Peer Review soll den erwähnten Rechtsstaatsdialog der Kommission ersetzen.
Doch er ist mit zwei ineinander verketteten Problemen behaftet. Erstens verursacht eine ernsthafte gegenseitige Bewertung viel Arbeit. Vom jeweiligen EU-Ratsvorsitzland ist das nicht zu bewältigen. Also braucht es ein ständiges Sekretariat. Dafür böte sich jenes des Rats oder die Kommission an. Doch verbaten sich zweitens in den bisherigen Diskussionen Ungarn und Polen jegliche Einbindung der EU-Institutionen. Die Peer Review solle rein zwischenstaatlich bleiben. Der Hintergedanke: Wenn das Thema im geschlossenen Klub der Regierungen bleibt, kann man es dort auch diskret kleinhalten.
Der zweite Vorschlag ist gehaltvoller. Auf Initiative mehrerer Nettozahler legte die Kommission im Mai 2018 den Entwurf einer Verordnung vor, welche die Auszahlung von EU-Fördermitteln in einem Mitgliedstaat stoppen würde, falls rechtsstaatliche Mängel deren korrekte Verwendung infrage zögen. Hier käme die Kommission in eine starke Rolle: Ihr Vorschlag des Einfrierens von EUMitteln könnte im Rat nur mit qualifizierter Mehrheit gestoppt werden – also praktisch nie. Klar, dass sich die osteuropäischen Staaten bisher dagegen wehren. Doch von deutscher Seite hört man eine klare Ansage: „Es wird keinen mehrjährigen EU-Finanzrahmen ohne so einen Mechanismus geben.“