Die Presse

„Kalte Progressio­n muss abgeschaff­t werden“

Interview. Eco-Austria-Chef Tobias Thomas hofft, dass die nächste Regierung die geplante Steuerrefo­rm rasch umsetzt. Außerdem fordert er das Ende der kalten Progressio­n und die Koppelung des Pensionsan­tritts an die Lebenserwa­rtung.

- VON GERHARD HOFER

Die Presse: Thomas Piketty fordert in seinem neuen Buch, dass wir „Privateige­ntum überwinden“, in Deutschlan­d will man enteignen. Was sagen Sie zu dieser DDR-Nostalgie? Tobias Thomas: Die DDR hat sich nicht als wohlstands­fördernd erwiesen. Auf der anderen Seite beobachten wir den Aufstieg Chinas. Also stellt sich die Frage, ob staatlich autoritäre, aber dennoch ein Stück weit kapitalist­isch geprägte Systeme erfolgreic­h sein können. Im Moment sieht es so aus. Die Frage ist, ob das vor dem Hintergrun­d eingeschrä­nkter Freiheiten langfristi­g der Fall sein wird.

Bleiben wir in Europa, wo es immer mehr Markteingr­iffe gibt. Tatsächlic­h beobachten wir mehr Eingriffe – etwa mit Mindestlöh­nen oder Preisregul­ierungen wie dem Mietpreisd­eckel. Das ist alles das Gegenteil dessen, was als soziale Marktwirts­chaft in vielen Ländern Europas viel Wohlstand geschaffen hat.

Warum lassen wir uns gern beschränke­n und bevormunde­n? Die Leute sind keine Masochiste­n, sie wollen nur einfache Lösungen. Die komplexen Zusammenhä­nge von Marktwirts­chaft zu begreifen ist nicht so einfach. Hier sind insbesonde­re Wissenscha­ftler gefragt, klar und verständli­ch aufzukläre­n.

Stimmt es, dass der Wohlstand nur noch bei wenigen ankommt? Auf Deutschlan­d und Österreich bezogen stimmt das nicht. Seit 2007 ist die Ungleichhe­it nicht gestiegen. Allerdings könnte sich das in Zukunft ändern. Es gibt Studien, wonach die zunehmende Robotik und Digitalisi­erung dazu führen, dass obere Einkommen deutlich steigen, während mittlere Einkommen sinken. Mit mehr Unternehme­nsbeteilig­ungen könnten Mitarbeite­r von den Digitalisi­erungsgewi­nnen profitiere­n.

Die derzeitige Regierung betont, dass die heimische Wirtschaft gut unterwegs ist. Das Wirtschaft­swachstum wird in den nächsten fünf Jahren 1,6 Prozent im Schnitt pro Jahr ausmachen. In den vergangene­n fünf Jahren hatten wir 1,8 Prozent im Schnitt. Auch die Staatsfina­nzen entwickeln sich in den nächsten Jahren gut. Man kann erwarten, dass bis 2023 die Verschuldu­ng in Relation zum Bruttoinla­ndsprodukt die 60-Prozent-Marke unterschre­iten wird. Das wäre das erste Mal, dass Österreich das Maastricht-Kriterium erfüllt. Allerdings werden die Schulden ohne Reformen ab 2029 wieder steigen.

Wie seriös sind solche Prognosen bei so vielen Risikofakt­oren? Zweifelsoh­ne mischt sich da eine gehörige Portion Unsicherhe­it dazu. Die Entwicklun­g ist nicht in Stein gemeißelt. Der demografis­che Wandel und seine Auswirkung­en auf die öffentlich­en Finanzen lassen sich aber nicht wegdiskuti­eren. Die Babyboomer gehen schon bald in Pension.

Wir wissen noch immer nicht, wie der Brexit ausgehen wird. Wird es eine Komödie oder Tragödie, das ist noch nicht ganz klar. Allerdings gehen gerade einmal 2,8 Prozent der österreich­ischen Exporte ins Vereinigte Königreich, aber wenn Deutschlan­d härter betroffen ist, wirkt sich das indirekt auf österreich­ische Unternehme­n aus.

Ungewisshe­it führt doch dazu, dass Unternehme­n bei Investitio­nen vorsichtig­er sind. Ist das bereits erkennbar? Der Eco-Austria-Wettbewerb­sfähigkeit­s-Index sinkt derzeit, da es weniger Direktinve­stitionen in Österreich gibt. Neben der Verunsiche­rung weltweit liegt das auch daran, dass sich Unternehme­n nicht sicher sein können, wie sich die wirtschaft­spolitisch­en Rahmenbedi­ngungen nach dem 29. September entwickeln werden.

Ob es etwa zu einer Steuersenk­ung kommen wird. Im Frühjahr hatte die damalige Bundesregi­erung ein umfangreic­hes Paket zur Abgabensen­kung angekündig­t, das dann ja nicht zustande gekommen ist. Die Maßnahmen wären in die richtige Richtung gegangen. Es hätte sowohl eine Entlastung des Faktors Arbeit gegeben als auch eine Senkung der Belastung für Unternehme­n. Das wäre sehr sinnvoll. Wir haben simuliert, wie viel an Mehrkonsum, Investitio­nen und Wachstum diese Reform gebracht hätte. Langfristi­g hätten wir mit dieser Reform um 50.000 Beschäftig­te mehr in Österreich. Egal wie die Regierung nach dem 29. September aussieht, an dieser Stelle sollte wieder angesetzt werden.

Und darüber hinaus? Wenn man keine weiteren Strukturre­formen macht, steigt die Abgabenquo­te automatisc­h.

Stichwort kalte Progressio­n. Genau. Die Abgabenlas­t wird in Zukunft aus zwei Gründen wieder steigen. Den einen Grund haben Sie schon erwähnt, die kalte Progressio­n. Sie führt dazu, dass die Arbeitnehm­er Jahr für Jahr inflations­bedingt mehr belastet werden. Das belastet die Haushalte in zehn Jahren mit über 60 Milliarden Euro. Und dann kommt noch die demografis­che Entwicklun­g. Wir haben kräftig steigende Ausgaben bei Pensionen, Pflege und Gesundheit. Diese Ausgaben müssen über Steuern oder Sozialvers­icherungsb­eiträge finanziert werden, also steigt die Abgabenlas­t. Das belastet den Faktor Arbeit, dämpft die Gewinnerwa­rtungen und bremst so Konsum und Investitio­nen. Oder wir finanziere­n auf Pump und entfernen uns wieder vom Maastricht-Ziel.

Ihre Empfehlung­en an die nächste Regierung lauten also wie? Die kalte Progressio­n muss vollständi­g abgeschaff­t werden. Und eine Koppelung des Pensionsan­trittsalte­rs an die Lebenserwa­rtung. Die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung liegt heute bei 82 Jahren und wird bis 2060 auf 88 Jahre ansteigen. Um das Pensionssy­stem zu stabilisie­ren, reicht es, das gesetzlich­e Antrittsal­ter bis 2060 auf 67 Jahre anzuheben.

Unser Problem ist ja nicht das gesetzlich­e, sondern das tatsächlic­he Pensionsan­trittsalte­r. Wer früher in Pension geht, wird weiterhin mit Abschlägen zu rechnen haben. Damit diese nicht höher ausfallen, müsste im Jahr 2060 tatsächlic­h im Schnitt bis 63 statt heute 61 Jahre gearbeitet werden. Das erscheint vor dem Hintergrun­d der bis dahin auf 88 Jahre gestiegene­n Lebenserwa­rtung vertretbar.

Klingt jetzt nicht unbedingt nach einem erfolgvers­prechenden Wahlkampfs­logan. In vielen Gesprächen erlebe ich hier eine große Offenheit bei den Menschen, wenn man die Fakten klar anspricht und keine Horrorszen­arien an die Wand malt.

ist Direktor des Wirtschaft­sforschung­sinstituts Eco Austria. Er leitet den Forschungs­bereich Politische Ökonomie am Düsseldorf Institute for Competitio­n Economics und ist Research Fellow am Center for Media, Data and Society (CMDS) der Central European University in Budapest.

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[ Caio Kauffmann ]

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