Dionysos stürmt die Burg
Saisoneröffnung unter dem neuen Direktor, Martin Kuˇsej, mit Ulrich Rasches wuchtig-plakativer Inszenierung der „Bakchen“des Euripides: Ein Kraftakt.
Burgtheater. Abend. Premiere. Saisonauftakt. (Trommeln). Neuer Direktor (Streicher). Ein deutscher Regisseur (Chor). Theben (Nebel). Text! Von Euripides. (Eine gewaltige Maschine taucht aus dem Dunkel auf ). Und jetzt alle zusammen: „Auf, ihr Bakchen!“So abgehackt wie den Sprechrhythmus dieser Einleitung stelle man sich das Theater vor, mit dem Martin Kusejˇ am Donnerstag als Intendant seine erste Spielzeit in Wien begonnen hat. Er engagierte für die Eröffnungspremiere Ulrich Rasche. Der bewährte Shootingstar unter deutschen Regisseuren hat im Vorjahr bei den Salzburger Festspielen mit einer strengen Interpretation der ältesten der attischen Tragödien überrascht – „Die Perser“des Aischylos – und auch bei Kusejˇ in München inszeniert.
Diesmal waren in Wien „Die Bakchen“des Euripides dran, ein wahrscheinlich im Exil in Mazedonien entstandenes Spätwerk, für das dieser 405 v. Chr. postum mit dem ersten Preis in Athen ausgezeichnet wurde. Er variiert darin einen uralten Mythos: die Rache des aus Kleinasien mit den Mänaden
in seine griechische Geburtsstadt zurückkehrenden Dionysos an seinen Verwandten, die seine Göttlichkeit bezweifeln. Er wird gefangen, befreit sich, schlägt zurück, stürmt und zerstört die Burg des jungen Königs Pentheus. Rennen, retten, flüchten. Die Frauen der Stadt sind längst in den Bergen, huldigen orgiastisch dem neuen Gott, angeführt von des Pentheus Mutter – Agaue ist eine Tochter des Stadtgründers Kadmos, so wie Semele, mit der Zeus angeblich Dionysos zeugte. Sie starb dann durch Blitzschlag. Der rächende, enthemmende Heimkehrer manipuliert die verblendeten Frauen. Sie zerreißen Pentheus, der das Mysterium als Frau verkleidet beobachten wollte. Agaue bringt den Kopf des Sohns, den sie für das Haupt eines Löwen hält, zurück in die Stadt. Erst dort dämmert ihr langsam die Untat. Es folgt die Verbannung.
Was hat Rasche aus diesem Stoff gemacht? Simpel gesagt: eine Wucht. So wie bereits bei früheren Arbeiten hat er für die Drehbühne eine riesige Plattform bilden lassen, ein komplexes Gebilde mit hydraulischen Pumpen und sechs langen Laufbändern, auf denen die Protagonisten und der Chor angeseilt schreiten und dabei in eigenwilligen Sequenzen mit vielen Kunstpausen und oft auch mit Gebrüll den Text von sich geben. Weil sie dabei mehr als drei Stunden lang perfekt durch eine Schlagzeugerin (Katelyn King) begleitet werden, kann man sich diesem Stampfen, Deklamieren, Schreien und Flüstern kaum entziehen. Ein Streichquintett, Sänger und Nebelschwaden, die sich wie Kitsch auf die Szene legen, ergänzen das Gesamtkunstwerk. Heerscharen von Eleven des Reinhardt-Seminars und der Musikuniversität Wien werden als Volk aufgeboten, zuweilen in Großaufnahme, ein Vorhang dient als Screen. Sie sagen Sätze wie „Diese Stadt gehört uns!“, als ob sie identitär einen Faschistenabgott bejubelten. Hier wird geklotzt, hier feiern Rasende eine schwarze Messe. Schade, dass dem Publikum zur Einfühlung in die atavistischen Zustände Thebens oder Wiens kein Wein angeboten wird!
Eine kleine Prise Übermensch
Die von Wolfgang Schadewaldt aus dem Altgriechischen übertragene Textbasis wirkt durch den gnadenlosen Rhythmus verfremdet (das bewirken auch Prisen von Nietzsche, noch spätere Philosophie und die erwähnten Aktualitäten). Man kommt sich nach diesem stundenlangen Generalangriff betäubt vor, wenn nicht sogar taub. Aber das ist nur ein Teil des Ganzen. Denn diese Aufführung ist raffiniert vielschichtig, voller Kraft, sie hat enorme Faszination.
Einfach sind hier die Protagonisten erklärt. Dionysos, der Wandelbare, den man nicht auf Wein und Exzess reduzieren sollte, wird hier von Franz Pätzold als Proto-Diktator vorgeführt – ein Hassprediger mit halb entblößtem Oberkörper von Beginn an. Felix Rech als Pentheus ist viel zurückhaltender. In adretter schwarzer Uniform verkörpert er die Ordnung – bei Rasche wohl auch die Demokratie. In Frauenkleider steckt er ihn nicht. Dabei hätte gerade das auch die Ambiguität dieser komplexen Figur gezeigt. Er wirkt wie Dionysos schematisch. Katja Bürkle gibt ihrem recht kurzen Auftritt als Agaue hingegen mit einfachen Gesten und ungeheurer Präsenz ein hohes Maß an Tragik.
Organisierte Gewalt statt der Orgien
Makellos agiert Markus Meyer, der Chorführer. Er ist auf diesen manchmal sehr steilen Laufbändern trittsicher und kommt nie aus dem Takt. Das trifft auf zwei ältere Herren nicht zu, aber sie geben mit ihren kurzen Auftritten als Warner dem Abend Charakter und Farbe. Hans Dieter Knebel als Seher Teiresias spricht wie aus anderer Zeit distinguiert. Martin Schwab spielt den Kadmon würdevoll und richtig rührend. Vorsichtig tastet er sich voran. Man ahnt: Der würde gern noch einmal ausgelassen sein, aber das geht hier gar nicht mehr. Selbst die Bakchen bevorzugen den militärischen Drill. Das Zeitalter des Orgien-Mysterien-Theaters ist vorbei. Es herrscht organisierte Gewalt.