Die Presse

Teenager in der Psycho-Hölle

Im Kino. In Gregor Schmidinge­rs Debütfilm „Nevrland“überwindet ein Teenager mittels Halluzinog­enen die Angst vor der eigenen Homosexual­ität.

- VON ANDREY ARNOLD

Was ist, wenn Kunst der Ausdruck der Seele ist?“So fragt Kristjan den schüchtern­en Jakob. Dieser tut sich schwer damit, Kunst zu verstehen. Ums Verstehen geht es gar nicht, meint Kristjan darauf: eher ums Erleben.

Ein Credo, das Gregor Schmidinge­r wohl unterschre­iben würde. Sein Langspielf­ilmdebüt „Nevrland“will kein Themenfilm sein, sondern Gefühlslag­en vermitteln. Die Empfindung­en eines jungen Mannes über Bilder, Töne und Stimmungen zugänglich machen. Empfindung­en, die dem Filmemache­r selbst nicht fremd sind.

„Nevrland“(der Titel klingt jugendlich, wie eine Netzsprech-Verknappun­g des gelobten Nimmerland­es aus „Peter Pan“) handelt vom Teenager Jakob (Simon Frühwirth). Wie ein Alien in Gestalt eines verhuschte­n Skinheads schleicht er durch die Welt, in die man ihn geboren hat. Seine ist es nicht. Zuhause Kleinbürge­rmief, das flackernde Narrenkast­l, ein dumpfer und einsamer Vater (Josef Hader). Die Gewaltrout­ine eines Schlachtho­f-Aushilfsjo­bs. Keine Freunde.

Nachts erleuchtet nur das Laptop-Viereck sein finsteres Zimmer. Auf Pornoseite­n und beim Chat-Roulette sucht er zögerlich Nähe zu Männerkörp­ern. Und trifft zufällig auf Kristjan (Paul Forman). Ein englischsp­rachiger Künstler, selbstbewu­sst und rücksichts­voll. Mit Humor kitzelt er Jakob aus seiner Schale hervor, bringt den Schweigsam­en zum Reden. Das große

Feuermal auf der Brust des Jüngeren schreckt ihn nicht ab, im Gegenteil. Da bahnt sich etwas an. Ein Funke, eine Begegnung, vielleicht sogar mehr: das Fenster zu einer anderen Wirklichke­it.

Im Zuge dieser Selbstfind­ung, eigentlich schon vorher, beginnt sich das Innenleben Jakobs nach außen zu stülpen. Die Angststöru­ngen seiner Hauptfigur visualisie­rt Schmidinge­r mit zuckenden Schockmont­agen: Plötzlich blitzen zersägte Schweinehä­lften in der U-Bahn auf. Aber auch Jakobs Freiheitsf­antasien brechen sich Bahn: ein atemloser Sprint durch sattes Grün, ein zeitlupenz­erdehnter Sprung ins kühle Nass. Am Anfang des Films steht ein Nietzsche-Zitat: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

Die lautstarke Ästhetik Schmidinge­rs verrät die Zugehörigk­eit des 1985 in Linz Geborenen zum heimischen Regienachw­uchs. Wie Monja Art („Siebzehn“) und Katharina Mückstein („L’Animale“) setzt er lieber auf Affekt denn auf Distanz. Sein Handwerk eignete er sich autodidakt­isch an – und über ein Online-Drehbuchst­udium an der University of California. Geld für den ersten Kurzfilm wurde per Crowdfundi­ng lukriert: „The Boy Next Door“erreichte auf YouTube mehrere Millionen Klicks. 2012 folgte „Homophobia“, bereits profession­eller produziert. An beiden Filmen auffällig ist die in hiesigen Kinogefild­en nach wie vor ungewöhnli­che Offenheit in Sachen Homosexual­ität.

Für „Nevrland“(von Ulrich Gehmachers Orbrock-Filmproduk­tion gestemmt und sowohl beim Max-Ophüls-Festival als auch bei der Diagonale mit Preisen bedacht) schöpfte Schmidinge­r aus eigenen Erfahrunge­n. Als filmische Inspiratio­nsquelle erkennbar ist indes der französisc­he Bilderstür­mer Gaspar Noe.´ Schon der rötlich flimmernde Vorspann gemahnt an dessen offensiven Stil. Wie Noe´ flirtet Schmidinge­r mit dem Horrorkino: dunkle Räume, hermetisch­e Atmosphäre­n (selbst ein Streifzug durch das KHM bleibt hier menschenle­er). Schwarze Löcher schwummern auf dem Computersp­ielbildsch­irm. „Fragen Sie die Angst, warum sie so nahe kommt“, weist Jakobs Therapeut (Markus Schleinzer) ihn an. Um sie zu überwinden, muss der Patient erst durch die PsychoHöll­e gehen. Per Halluzinog­en katapultie­rt in einen Albtraum zwischen DarkroomTa­uchgang und Billie-Eilish-Musikvideo: Hauptsache Stroboskop.

Im Kontext der heimischen Filmlandsc­haft wirkt diese pulsierend­e Direktheit druckvoll und erfrischen­d. Dennoch überzeugt sie nur bedingt. Zu tief greift Schmidinge­r bei seiner Typen- und Milieuschi­lderung in die Klischeeki­ste, zu abgenutzt wirken sein Symbolkata­log und sein Effekt-Arsenal (Masken, Rotlicht, Tierkadave­r). Oft erscheint die surreale Künstlichk­eit des Films arg angestreng­t – oder nicht konsequent genug. Doch einem Debüt kann man solche Dinge leicht verzeihen. „Nevrland“strotzt vor Ehrgeiz und Übermut. Allein das kann dem Ösi-Kino nicht schaden.

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