Der Abschied von den Kindern
Wien 1919. Im September 1919 flossen auf den Wiener Bahnhöfen Abschiedstränen. Von Kindern und Eltern. Für die Kleinen begann eine Reise in den Norden: nach Dänemark.
Was würde sich die Familie bloß denken, wenn du ohne Schuhe kommst?“Hildes Mutter packte Schuhe in Zeitungspapier und umwickelte das Paket mit einer Schnur. Hilde protestierte: Sie wusste, ihre Schwestern würden nun barfuß zur Schule gehen müssen.
Wien 1919. Am Ende des Ersten Weltkriegs war die Kindersterblichkeit um 100 Prozent höher als in der Vorkriegszeit. 200.000 Schulkinder gab es damals in Wien, ein Viertel von ihnen wurde vom städtischen Jugendamt untersucht. Das Ergebnis: 91 Prozent waren unterernährt. Das führte zu einem sprunghaften Anstieg von Krankheiten wie Rachitis oder Tuberkulose. Die Spanische Grippe tat dann das Übrige.
Bereits während des Kriegs wurden daher Kinderverschickungen gefordert. 1917 sprang als Erster die Schweiz ein. Die Nachrichten waren so schrecklich, dass es zu einer Welle internationaler Hilfsmaßnahmen kam, über alle Grenzen hinweg. Für Beobachter aus dem neutralen Ausland waren diese Kriegsfolgen ein Schock. Österreich war ja kein Entwicklungsland, die Berichte und Bilder aus einem zivilisierten Staat Europas lösten tiefe Verstörung aus. Das führte zu einer Betroffenheit, die über ein vages, allgemeines soziales Mitgefühl weit hinausging. Auch die ehemaligen Kriegsgegner, nicht nur neutrale Staaten, schlossen sich an. Sogar Länder wie Argentinien und Ägypten beteiligten sich an der humanitären Hilfe. Man zeigte sich hilfsbereit, doch an einem Netz sozialer Vorsorge fehlte es auch in diesen Ländern. Also war man auf nicht staatliche, religiöse Organisationen oder Privatpersonen angewiesen, auf traditionelle Philanthropie, eine Wohltätigkeitsform aus dem 19. Jahrhundert.
Ein dänischer Arzt, der im Wiener AKH arbeitete, war tief betroffen von der hoffnungslosen Situation der Kinder. Er schrieb an seinen Schwager, Sigurd Jacobsen, einen Rechtsanwalt in Kopenhagen. Es entstand die Idee zur Landverschickung, man nannte sie Wienerborns Landophold i Danmark (Landaufenthalt für Wiener Kinder in Dänemark). Die Frau des dänischen Gesandten in Wien, Emmy von Medinger, unterstützte die Initiative zur Unterbringung von Wiener Kindern im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren.
Personen aus dem liberalen Bürgertum, besonders wenn sie persönliche Beziehungen zu Österreich hatten, erklärten sich bereit, Pflegekinder aufzunehmen, manchmal waren sie selbst kinderlos. Vorbild war die Hilfe, wie sie die Schweiz praktizierte. Ein rasch gegründetes Komitee veröffentlichte in Kopenhagen einen Aufruf, in dem auf die verzweifelte Situation in Wien und das Leid der Kinder hingewiesen wurde. Artikel in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, mit Nachdruck wurde auf die Unschuld der Kinder hingewiesen, ebenso wie auf ihre Herkunft aus der Mittelschicht. Die Not in Wien sei groß, bei den Höchstgestellten genauso wie bei den armen Schichten.
„Über das Leiden der Mittelschichten in Wien wurden Deklassierungsängste innerhalb der dänischen Mittelschicht angesprochen“, so Isabella Matauschek mit Hinweis auf die schwierige Lage, in der sich auch das Nachkriegs-Dänemark befand. Die Autorin schreibt in ihrer Studie „Lokales Leid – globale Herausforderung“: „Wenn die westliche Metropole Wien so bedroht war, war im Prinzip auch Dänemark bedroht. Man kann ein solches Elend und eine solche Sterblichkeit, wie man sie in Wien findet, nicht bestehen lassen, ohne den Bolschewismus zu riskieren, und der würde dann sicher nicht auf die Stadt Wien beschränkt bleiben.“Zudem besaß Österreich – und hier besonders Wien – den Vorteil, von der dänischen Bevölkerung als Kulturnation geschätzt zu werden.
So wurde das Wiener Kinderprojekt überaus erfolgreich. Bereits im Herbst 1919 schickte das Komitee ein Telegramm mit der Einladung für 250 Kinder nach Wien, bald waren es 400, die dänischen Staatsbahnen stellten erst ab dieser Zahl einen Sonderzug zur Verfügung. Auf Verzögerungen durch die österreichische Bürokratie reagierten die engagierten Dänen mit Ungeduld. Freilich: Die Kinder mussten ärztlich untersucht werden, um die Anstrengungen der Reise auch durchzuhalten, sie durften keine ansteckenden Krankheiten haben. Und die Haare mussten ungezieferfrei sein. Vor der Abreise wurde ein gemeinsames Treffen für die Kinder und ihre Eltern organisiert, man hörte einen Vortrag über Dänemark und schaute sich das Land auf der Landkarte an.
So kam es am 16. September 1919 zum ersten tränenreichen Abschied zwischen Eltern und Kindern auf dem Wiener Franz-Josefs-Bahnhof. Die Abteile waren kalt, die Kinder schlecht gekleidet, die Fahrt dauerte 1960 von ehemaligen „Wiener Kindern“gegründet, erinnert sich am 16. September an die erste Zugsfahrt vor 100 Jahren. Die Veranstaltungen beginnen um 10 Uhr im Stephansdom, um 15 Uhr wird im Donaupark eine Gedenktafel enthüllt, um 18 Uhr gibt es einen Festakt im Wappensaal des Wiener Rathauses. Erinnert wird an die Hilfe Dänemarks nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. lang, in Berlin gab es endlich warme Suppe, dann, nach 30 Stunden, bekamen die hungrigen und durchgefrorenen Kleinen auf der Fähre von Warnemünde zum ersten Mal dänisches Essen, Smørbrød mit gekochtem Fisch, warme Milch und Kuchen. Es war wie im Schlaraffenland. „Ich bekam so viel Gutes zu essen, dass mir am Abend sehr schlecht war. Leider bin ich das gute Essen nicht mehr gewöhnt.“(Die dänische Journalistin Susanne Knudsen hat die Erinnerungen einiger Kinder dokumentiert.)
Nun hatten die dänischen Komiteemitglieder nach eigenen Worten „Blut geleckt“. Jetzt sollte das Engagement für die Wiener Kinder so richtig Fahrt aufnehmen. Nach einer Werberundreise fand Jacobsen in seinem Büro 10.000 Einladungen für Kinder aus Wien vor. Im März 1920 kamen 500 Einladungen pro Tag, 60 Telefonanrufe pro Stunde. Das Projekt hatte nationale Dimension angenommen. Während des ersten Jahrs der Aktion kamen 10.284 Wiener Kinder nach Dänemark, inzwischen gab es mehr Einladungen als ankommende Kinder. Dänemark wurde sich der Stärke seiner bürgerlich-liberalen Wertewelt bewusst, die Hilfsaktion gewann im Kontext eines nationalen Selbstverständnisses an Bedeutung. Bis zum September 1922 reisten 17.990 Kinder nach Dänemark, insgesamt waren es rund 25.000.
Zwischen den Pflegeeltern entspann sich ein edler Wettstreit, welches der Kinder am schnellsten Gewicht zulegte. Beim Einkauf auf dem Fischmarkt wurde das Kind auf der Waage des Händlers gewogen. Zunächst war geplant, dass die Kinder drei Monate bleiben sollten. Doch viele Pflegeeltern wollten die Kinder nicht in die trostlosen Verhältnisse zurückschicken. Die aufgepäppelten Kinder würden wieder Gewicht verlieren, hieß es. Zu Recht. So baten auch Wiener Eltern um Verlängerung, schickten heimgekehrte Kinder gleich wieder zurück. Ein Bub, Franzi, acht Jahre alt, schrieb sogar an den dänischen König: „Bitte lieber Herr König, darf ich länger in Dänemark bleiben.“In Wien gab man widerstrebend nach, man wollte hier möglichst vielen Kindern helfen. Der Druck der Pflegeeltern auf die Behörden gab aber dann letztendlich den Ausschlag. Die Aufenthalte wurden verlängert.
So lebten sich die Wiener Kinder ein, die meisten blieben länger und gingen in Dänemark auch zur Schule. Die Identifikation mit der Gastfamilie führte zu einem potenziellen Konflikt mit den Eltern in Wien. Aber die Kinder schafften diese multiple Elternschaft ganz gut. Und auf die Heimkehr freuten sie sich in der Regel. „Berterl, Berterl, dass d’ nur wieder da bist. Und druckt hat er mich und gwant hamma alle beide“, so die Erinnerung einer Heimkehrerin bei der Begegnung mit dem Vater. Doch die Bindung an Dänemark hielten viele ein Leben lang aufrecht.