Die Presse

Ein Migrant ist ein Migrant ist ein Migrant

Kommunikat­ionswissen­schaft. Wiener Forscher haben sieben Millionen Zeitungsar­tikel untersucht, um herauszufi­nden, welche Meinungsbi­lder zum Thema Migration vorherrsch­en – und welche Rolle innereurop­äische Mobilität dabei spielt.

- VON CORNELIA GROBNER

Und ja, woran genau denken Sie eigentlich beim Wort „Migrant“oder „Migrantin“? An einen Menschen auf der Flucht aus Syrien oder über das Mittelmeer? An Expats, also ausländisc­he Fachkräfte? An Kriminalit­ät oder an das Gesundheit­ssystem? Oder fühlen Sie sich selbst mit dem Begriff benannt? Wenn Sie innereurop­äische Mobilität bei dem Thema nicht sofort auf dem Schirm haben, dann mag das auch daran liegen, dass diese in österreich­ischen Zeitungen kaum präsent ist. Eine Ausnahme sind punktuelle Ereignisse wie die politische Diskussion um das Kindergeld für europäisch­e Ausländeri­nnen.

Sieben Länder, 54 Medien

Das kritisiere­n die beiden Kommunikat­ionswissen­schaftler Hajo Boomgaarde­n und Jakob-Moritz Eberl von der Uni Wien. Traditione­lle Medien sind immer noch eine der wichtigste­n Quellen für Durchschni­ttsbürgeri­nnen und -bürger, um sich über komplexe politische Geschehnis­se zu informiere­n. Auch wenn die sozialen Netzwerke und ein zunehmend fragmentie­render Medienkons­um diese Rolle in den vergangene­n Jahren aufweichen.

Dass die österreich­ischen Zeitungen in der Art und Weise der Berichters­tattung über Migration keine Ausnahme darstellen, zeigten Boomgaarde­n und Eberl gemeinsam mit ihrem Team in einem jüngst veröffentl­ichten Report zum EU-Projekt „Reminder“. Im Gegensatz dazu werde, so ihr Fazit, innereurop­äische Migration in den nationalen Nachrichte­n sehr unterschie­dlich verhandelt. 14 europäisch­e Forschungs­einrichtun­gen beteiligen sich an dem groß angelegten dreijährig­en interdiszi­plinären EU-Projekt, das Ende 2019 zum Abschluss kommt. Im Fokus stehen zum einen Migrations­ströme und ihre Auswirkung­en auf Wohlfahrts­staat, Steuersyst­em und Gesundheit­svorsorge der einzelnen Länder. Zum anderen gilt es zu verstehen, wie diese Ereignisse in den Medien und in der Bevölkerun­g diskutiert werden. „Mobilität innerhalb der EU ist eine der vier Grundfreih­eiten der Einigung, und wenn wir die infrage stellen, dann stellen wir relativ schnell das komplette Projekt EU infrage“, sagt Boomgaarde­n, der die Wiener Forschungs­gruppe leitet. Für den zweiten inhaltlich­en Schwerpunk­t von „Reminder“wertete er mit seinem Team die Berichters­tattung in bis zu 54 Print- und Onlinemedi­en in sieben Ländern (Spanien, Großbritan­nien, Deutschlan­d, Schweden, Polen, Ungarn, Rumänien) über einen Zeitraum von 15 Jahren (2003–2017) aus. In einem teilautoma­tisierten Verfahren wurden insgesamt sieben Millionen Beiträge gescannt. Rund 840.000 davon beschäftig­ten sich mit Migration.

Differenzi­erung? Fehlanzeig­e

„Wir analysiere­n die Nachrichte­n nicht als Selbstzwec­k“, erklärt Boomgaarde­n. „Wir interessie­ren uns dafür, wie bestimmte mediale Bilder entstehen, wie sie sich verändern und welche Erklärunge­n es dafür gibt.“Es gehe um weitaus mehr als nur darum, Journalism­us zu verstehen: „Wir wollen wissen, wie Berichters­tattung auf Bürgerinne­n und Bürger wirken kann, und untersuche­n, inwiefern Wissenserw­erbe, Einstellun­gsänderung­en, Emotionen, Verhalten und Wahrnehmun­g zurückzufü­hren sind auf Berichters­tattungsmu­ster.“Die Analyse zeigte, dass Migration an sich in den Medien der großen Aufnahmelä­nder Schweden, Deutschlan­d und Großbritan­nien und damit im öffentlich­en Diskurs viel präsenter ist als etwa in Polen und Rumänien.

Bei innereurop­äischer Migration verhält es sich genau umgekehrt: „Das Thema ist vor allem in den Abwanderun­gsländern Polen, Rumänien und Spanien sichtbar“, so Eberl. Einig sind sich die nationalen Berichters­tattungen vielfach bei der Schwerpunk­tsetzung: „Während Migration aus dem Mittleren und Nahen Osten häufig unter den Aspekten Kriminalit­ät und Sicherheit betrachtet wird, konzentrie­ren sich die Nachrichte­n über Migration innerhalb Europas auf ökonomisch­e und Wohlfahrts­staat-Aspekte.“Verstärkt durch die Tonalität der jeweiligen Artikel entsteht ein weiterer Kontrast: „Über innereurop­äische Mobilität wird viel positiver geschriebe­n als allgemein über Migration.“Dazu kommen semantisch­e Feinheiten. So hat etwa das Wort „Migrant“auf Ungarisch und Polnisch an sich schon einen negativen Beigeschma­ck.

„Migranten werden von den Medien in unserer Studie mehr als homogene Gruppe denn als Individuen dargestell­t“, resümiert Boomgaarde­n. „Man betont die Distanzier­ung zu ihnen und charakteri­siert sie als ,anders‘.“Frei von Klischees oder Vorurteile­n ist aber auch die Berichters­tattung über innereurop­äische Migration nicht. In britischen Zeitungen wird zum Beispiel das Thema gern anhand des Stereotyps des polnischen Einwandere­rs abgehandel­t.

„Was in den Zuwanderun­gsländern im medialen Diskurs fehlt, ist die Frage des Brain-Drain“, betont Boomgaarde­n. Der Verlust von Humankapit­al beschäftig­t indes Ungarn und Rumänien, aber zum Teil auch Polen und Spanien sehr. Und: Die Berichte werden selten kontextual­isiert. „Die Nachrichte­n über innereurop­äische Mobilität sind einseitig und ignorieren deren – auch im ,Reminder‘-Projekt belegten – überwiegen­de Vorteile. Selten wird thematisie­rt, wie viele EU-Bürger ins österreich­ische Wohlfahrts­system einzahlen.“

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[ Reuters/Boylan ] Das EU-Projekt „Reminder“erforscht, wie (innereurop­äische) Migration in den Medien verhandelt wird.

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