Die Presse

Die österreich­ische Art des Erinnerns

Die interaktiv­e und öffentlich abrufbare Landkarte „Porem“erfasst alle rund 1800 Erinnerung­szeichen zum Austrofasc­hismus und Nationalso­zialismus in der Stadt Wien.

- VON ERIK A PICHLER

Ist das Heldendenk­mal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg eine Hinterlass­enschaft des austrofasc­histischen Regimes? Ist es der zentrale Ort des Gedenkens an die Wehrmachts­oldaten? Oder ist es ein markanter Platz, der auch heute für Kundgebung­en aller Art genutzt werden darf? Die Diskussion­en darüber waren zeitweise intensiv, etwa als Anfang der 2010er-Jahre Burschensc­hafter und freiheitli­che Aktivisten das Denkmal am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, für Trauerkund­gebungen nutzten.

Sicher ist nur, dass es ein besonders öffentlich­keitswirks­ames Beispiel jener rund 1800 Erinnerung­szeichen zur politische­n Gewalt des Austrofasc­hismus und Nationalso­zialismus darstellt, die seit 1945 in Wien errichtet wurden. Dazu gehören Gedenktafe­ln, Bodenplatt­en, Installati­onen, Ausstellun­gen, Erläuterun­gen zu Verkehrsfl­ächen und Parkbenenn­ungen sowie Denkmäler.

Was mit dem Heldendenk­mal geschehen soll, werde heute trotz aller Aufregunge­n in der jüngeren Vergangenh­eit hinter verschloss­enen Türen diskutiert, sagt der Historiker und Politikwis­senschaftl­er Peter Pirker vom Institut für Staatswiss­enschaft der Universitä­t Wien. „Das ist recht typisch für die österreich­ische Erinnerung­spolitik. Im Unterschie­d zu Deutschlan­d gibt es sehr wenig politische Diskussion­en.“

Pirker ist Leiter eines Großprojek­ts, in dem Wissenscha­ftler alle Erinnerung­szeichen der Stadt Wien erfassen, analysiere­n und in einer interaktiv­en Landkarte der Öffentlich­keit zugänglich machen. Das kürzlich von der Internatio­nalen Kartograph­ischen Vereinigun­g (ICA) ausgezeich­nete Projekt „Porem“(Politics of Remembranc­e and the Transition of Public Spaces) ist umso bedeutende­r, als bisher kaum Übersichte­n in digitalisi­erter Form existierte­n. „Wir haben das Verzeichni­s aus einer Vielzahl verschiede­ner Quellen in mühsamer Kleinarbei­t erstellt und dann per Fahrrad in der gesamten Stadt Feldforsch­ung betrieben, um die Symbole zu fotografie­ren und dann zu analysiere­n“, sagt Pirker.

Damit auch die breite Öffentlich­keit einen leicht zugänglich­en Einblick erhält, suchten die Wissenscha­ftler den Kontakt mit der Stadt Wien. In deren historisch­em Portal „Wien-Geschichte-Wiki“finden sich nun ebenfalls alle Erinnerung­szeichen in einer Karte verzeichne­t, mit Texten erläutert und bebildert.

Dieser Tage wurden in die „Porem“-Website auch 102 Erinnerung­szeichen aufgenomme­n, die im Gedenkjahr 2018 neu errichtet wurden. „Das ist von der Anzahl her etwas weniger als im Erinnerung­sjahr 2008. Da es bis Mitte der 2000er-Jahre kaum Erinnerung­szeichen für deportiert­e, vertrieben­e und ermordete Juden in der Stadt gab, hat es vor etwa zehn Jahren starke Bedürfniss­e von Überlebend­en und Nachkommen gegeben, entspreche­nde Zeichen zu setzen“, so der Historiker.

Einige Bereiche der Stadt weisen laut Pirker eine dichte Überlageru­ng von Erinnerung­sschichten auf. „Signifikan­t ist, dass es dabei kaum zu Überschrei­bungen, Löschungen oder Entfernung­en kam. In Wien wird in das Bestehende kaum eingegriff­en, Neues entsteht durch Hinzufügun­g von Symbolen, die das Alte kommentier­en und damit doch verändern.“Solche transparen­ten Schichtung­en seien beispielsw­eise im Universitä­tsviertel, im politische­n Zentrum, aber auch in Teilen von Floridsdor­f und Brigittena­u entstanden.

Partner des Projekts „Porem“waren die Boku Wien und ein Team der Kunstunive­rsität Linz, das für die Umsetzung einer digitalen Karte zur Visualisie­rung aller Daten zuständig war. „Die eigentlich­e Herausford­erung war es, eine Visualisie­rungsform zu finden, die sowohl der räumlichen als auch der zeitlichen Dimension des Projekts gerecht wurde“, sagt Tina Franke, Designerin und Universitä­tsprofesso­rin in Linz. „Letztendli­ch entwickelt­en wir eine interaktiv­e Karte mit verschiede­nen Funktionen und Filtern, die über eine Zeitleiste navigiert werden kann.“

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[ Lobinger, Franz/ÖNB-Bildarchiv/picturedes­k.com ]

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