Utopische Gastfreunde
Brigitte Schwens-Harrant und Jörg Seip fragen nach Identität.
Wer bin ich? Dies lässt sich für manche sowohl persönlich als auch im gesellschaftlichen Kontext manchmal schwer beantworten. Andere hingegen können vermutlich wie aus der Pistole geschossen Auskunft darüber geben.
Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der „Furche“, und Jörg Seip, Professor für Pastoraltheologie der Universität Bonn, haben einen Essayband über das Verfertigen von Identitäten herausgebracht. In „Mind the gap“begeben sie sich auf die Suche nach unterschiedlichen Zugängen oder, wie im Untertitel konkretisiert, Fährten zu Identität – ein Begriff, der derzeit über allen Stammtischen schwebt.
Fährten implizieren, dass Identität nichts Dauerhaftes ist, sie muss erst gefunden werden, sie kann sich im Lauf der Zeit verändern oder muss es sogar, wenn sie nicht zur leeren Hülle erstarren will. Die geistes- und sozialwissenschaftliche These, dass Identität von äußeren Faktoren und inneren Selbstzuschreibungen bestimmt wird, steht gegen die fatalistische Ansicht, dass die Identität durch Herkunft und Biologie determiniert sei.
Es geht dem Autorenduo weniger um die Herstellung von Identitäten, sondern um den Abstand, den gap, zwischen dem Eigenen und den anderen, genauer noch, den Fremden, dem Unterschied zwischen dem Ich und dem Du. Im aktuellen Diskurs wird dieser Unterschied immer wichtiger, immer aufgeblähter. Die Fragmentierung der Gesellschaft schreitet voran, jeder soll an seinen Platz verwiesen werden, und dort soll er möglichst (gefälligst) bleiben. Durchlässigkeit – egal, in welche Richtung – ist nicht erwünscht. Die einzelnen Fragmente werden dichter und undurchdringlicher.
Identität als Waffe
Im Vorwort stellen Schwens-Harrant und Seip die Frage, ob unterschiedliche Identitäten auf einen Nenner gebracht werden können. Und was wäre dieser Nenner? Wer hat überhaupt Interesse an Identitäten? Identität kommt nur zum Vorschein im Vergleich mit anderen Identitäten – ohne Austausch oder Dialog gäbe es gar keine Identität. Ein Satz aus dem Buch veranschaulicht deutlich die Absicht von staatstragender Identitätsherstellung, die je nach politischer Ausrichtung von Regierungen mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommt: „,Identität‘ wird behauptet und gegen andere eingesetzt, mit enormen politischen, ökonomischen und sozialen Folgen.“Identität als Waffe, um sich abzugrenzen und andere auszuschließen, um Grenzen festzulegen und gegebenenfalls zu verteidigen. Die Verfertigung von Identitäten hat weitreichende Folgen, die jeden Bereich des Lebens beeinflusst.
Schwens-Harrant und Seip unterziehen die Begriffe „Liebe“, „Gender“, „Stadt“, „Hybride“, „Othering“, „Religion“und „Gast“genauen Analysen und klopfen sie auf ihre Fähigkeiten zur Identitätsbildung ab. Sie bedienen sich eines breiten Spektrums an philosophischwissenschaftlicher Literatur und ziehen auch literarische Autoren zurate. Jane Austen steht neben Jaques Derrida und Michael Stavaricˇ neben Judith Butler.
Es ist ein faszinierendes und wichtiges Werk zum aktuellen Diskurs, das sich im letzten Kapitel, „Gast“, Derridas Denkfigur der „unbedingten, absoluten Gastfreundschaft“widmet, die ein umwerfendes Ereignis ist und sich dadurch grundsätzlich von der rechtlich geregelten unterscheidet. Sie bleibt freilich utopisch, denn die letzte Konsequenz wäre im Grunde eine Metamorphose: Das Du würde zum Ich und umgekehrt.