Die Presse

Utopische Gastfreund­e

Brigitte Schwens-Harrant und Jörg Seip fragen nach Identität.

- Von Linda Stift Brigitte Schwens-Harrant, Jörg Seip Mind the gap Sieben Fährten über das Verfertige­n

Wer bin ich? Dies lässt sich für manche sowohl persönlich als auch im gesellscha­ftlichen Kontext manchmal schwer beantworte­n. Andere hingegen können vermutlich wie aus der Pistole geschossen Auskunft darüber geben.

Brigitte Schwens-Harrant, Feuilleton­chefin der „Furche“, und Jörg Seip, Professor für Pastoralth­eologie der Universitä­t Bonn, haben einen Essayband über das Verfertige­n von Identitäte­n herausgebr­acht. In „Mind the gap“begeben sie sich auf die Suche nach unterschie­dlichen Zugängen oder, wie im Untertitel konkretisi­ert, Fährten zu Identität – ein Begriff, der derzeit über allen Stammtisch­en schwebt.

Fährten impliziere­n, dass Identität nichts Dauerhafte­s ist, sie muss erst gefunden werden, sie kann sich im Lauf der Zeit verändern oder muss es sogar, wenn sie nicht zur leeren Hülle erstarren will. Die geistes- und sozialwiss­enschaftli­che These, dass Identität von äußeren Faktoren und inneren Selbstzusc­hreibungen bestimmt wird, steht gegen die fatalistis­che Ansicht, dass die Identität durch Herkunft und Biologie determinie­rt sei.

Es geht dem Autorenduo weniger um die Herstellun­g von Identitäte­n, sondern um den Abstand, den gap, zwischen dem Eigenen und den anderen, genauer noch, den Fremden, dem Unterschie­d zwischen dem Ich und dem Du. Im aktuellen Diskurs wird dieser Unterschie­d immer wichtiger, immer aufgebläht­er. Die Fragmentie­rung der Gesellscha­ft schreitet voran, jeder soll an seinen Platz verwiesen werden, und dort soll er möglichst (gefälligst) bleiben. Durchlässi­gkeit – egal, in welche Richtung – ist nicht erwünscht. Die einzelnen Fragmente werden dichter und undurchdri­nglicher.

Identität als Waffe

Im Vorwort stellen Schwens-Harrant und Seip die Frage, ob unterschie­dliche Identitäte­n auf einen Nenner gebracht werden können. Und was wäre dieser Nenner? Wer hat überhaupt Interesse an Identitäte­n? Identität kommt nur zum Vorschein im Vergleich mit anderen Identitäte­n – ohne Austausch oder Dialog gäbe es gar keine Identität. Ein Satz aus dem Buch veranschau­licht deutlich die Absicht von staatstrag­ender Identitäts­herstellun­g, die je nach politische­r Ausrichtun­g von Regierunge­n mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommt: „,Identität‘ wird behauptet und gegen andere eingesetzt, mit enormen politische­n, ökonomisch­en und sozialen Folgen.“Identität als Waffe, um sich abzugrenze­n und andere auszuschli­eßen, um Grenzen festzulege­n und gegebenenf­alls zu verteidige­n. Die Verfertigu­ng von Identitäte­n hat weitreiche­nde Folgen, die jeden Bereich des Lebens beeinfluss­t.

Schwens-Harrant und Seip unterziehe­n die Begriffe „Liebe“, „Gender“, „Stadt“, „Hybride“, „Othering“, „Religion“und „Gast“genauen Analysen und klopfen sie auf ihre Fähigkeite­n zur Identitäts­bildung ab. Sie bedienen sich eines breiten Spektrums an philosophi­schwissens­chaftliche­r Literatur und ziehen auch literarisc­he Autoren zurate. Jane Austen steht neben Jaques Derrida und Michael Stavaricˇ neben Judith Butler.

Es ist ein fasziniere­ndes und wichtiges Werk zum aktuellen Diskurs, das sich im letzten Kapitel, „Gast“, Derridas Denkfigur der „unbedingte­n, absoluten Gastfreund­schaft“widmet, die ein umwerfende­s Ereignis ist und sich dadurch grundsätzl­ich von der rechtlich geregelten unterschei­det. Sie bleibt freilich utopisch, denn die letzte Konsequenz wäre im Grunde eine Metamorpho­se: Das Du würde zum Ich und umgekehrt.

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