In den Gassen des Horrors
Dieser schmale Band entwickelt durch die kühle Präzision der Sprache und die kompromisslose Härte, mit der die ungeheuerlichsten Fakten beim Namen genannt werden, eine beklemmende Intensität. Er ist der Rechenschaftsbericht eines jungen Historikers, der über die Logistik des Holocaust forscht und aus der Rückschau versucht, seinem Vorgesetzten, dem Direktor von Yad Vashem, darzulegen, wie es zu dem Eklat kam, der seine Laufbahn beendete. Es ist die Geschichte einer Verwandlung.
Der Verfasser des Briefes ist ein pragmatischer, nüchterner Mensch, der nicht aus innerem Drang zu seinem Forschungsgegenstand kam, sondern durch Zufall und Karrierestreben, und so schreibt er anfangs trocken: „Mich reizten vor allem die technischen Details der Vernichtung, der Verwaltungsapparat, das Personal, die Methode.“Sympathisch ist dieser junge Historiker mit seinem Arbeitseifer, seinem Ehrgeiz und seinem Wunsch, dem Vorgesetzten zu gefallen, zunächst ganz und gar nicht. Doch diese Qualitäten bringen ihn rasch voran, und er wird einer der begehrtesten Guides der Konzentrationslager in Polen. Sein Wissen ist umfassend und detailliert, er steht über den Dingen, wird nie emotional. Er führt Jugendgruppen, Schüler, Rekruten, auch einmal einen Minister, er tut es korrekt, „er glänzt durch sein Wissen, aber es fehlt ihm noch an Gefühl und Opferbezug“, wie sein Vorgesetzter einmal anmerkt.
Doch mit dem Holocaust lässt man sich nicht ungestraft ein. Im Lauf der Zeit, mit jeder Führung, wird ihm die Bedeutung dessen klarer, was im jüdischen Denken seit je fest verankert ist, dass Erinnern nichts anderes bedeutet als Vergegenwärtigen. Deshalb stören ihn bald die selbst erfundenen Rituale der jungen Menschen, die den emotionalen Schock durch Lieder, durch Fahnen, Gedenkkerzen und das an vielen Orten wiederholte Kaddisch zu mildern versuchen. Es wird ihm unerträglich als „banaler Wohlfühlkram“, und so entfremdet er sich den verstörten Jugendlichen. Er überfordert sie, indem er darauf besteht, das Ungeheuerliche unverbrämt beim Namen zu nennen. „Doch ihnen ist kalt, sie sind müde vom Nachtflug, sie möchten bloß ins Hotel, einen Hauch von Ausland spüren.“
Er belauscht ihre Reaktionen: Es ist vor allem Hass, auf die Polen, sogar auf die Opfer, auf die Araber, jedoch nie auf die deutschen Mörder. Nicht einmal die jungen Rekruten und Offiziere hegen Hass auf die Deutschen. „In ihren Reden hatten die Mörder weder Gestalt noch Sprache, waren vom Himmel gefallen.“Er versucht, es sich aus den Bildern zu erklären: Die Mörder „sehen total cool aus in diesen eleganten HugoBoss-Uniformen, auf ihren Motorrädern,
entspannt, wie Models auf Straßenreklamen.“Als er einen Überlebenden engagiert, wird ihm zum ersten Mal klar, dass die Schoah sich nicht auf Abstand halten lässt.
Der Zeitzeuge kann nicht aus der Distanz der Erinnerung erzählen, er ist wieder dort, damals, alles ist verschlingende Gegenwart, er sieht, wie seine Mutter von ihm weggerissen wird, er sieht das Feuer, er bricht zusammen. Während der Ich-Erzähler noch glaubt, alles im Griff zu haben, beginnen auch bei ihm die körperlichen Symptome der Zerrüttung, die er anfangs mit einem verstohlenen Drink an der Hotelbar zu beruhigen versucht. Seine quälenden Fragen kann er mit niemandem teilen: „Ist jeder Mensch zu diesen Taten fähig?“, „Ist Wegschauen eine Schuld, derer auch ich fähig wäre?“Wenn er sie, selten genug, ausspricht, gibt es Klagen, sein Ansehen leidet, Gefühlsausbrüche sind nicht vorgesehen. „Ich hatte sie nicht in diese Horrorgasse hi
Qneinziehen wollen, war dazu verdammt, allein drin zu sein.“Da er für die Aufgabe als Guide Jugendlicher immer weniger tragbar erscheint, wird er Touristengruppen zugeteilt, die kurz in Auschwitz vorbeischauen wollen, jedoch nicht gewillt sind, sich seine Erklärungen anzuhören. Doch die Führungen sind noch nicht das Schlimmste. Ein Start-up-Unternehmen tritt an ihn mit der Bitte nach genauen Details heran, man plane ein Simulationsprojekt von Vernichtungslagern, ein Computerspiel, „um die Jugend zu erreichen“. Für den Verkehrsminister auf der Durchreise ist Treblinka ein Fototermin mit Gedenkminute. Schließlich soll eine Gedenkzeremonie zum 75. Jahrestag der Wannseekonferenz im Vernichtungslager Majdanek stattfinden, mit Hubschraubern, einer Bodentruppe; als sollte der Ort ein Dreivierteljahrhundert zu spät erobert werden.
Während das Monster Holocaust ihn allmählich verschlingt, wird seine Verstörung immer sichtbarer. Er lässt sich einen Bart wachsen, kauft alte Kleider in einem Warschauer Secondhandshop, man hält ihn für einen verwahrlosten Polen. Die Nachbarin borgt ihm Kleidung ihres verstorbenen Mannes. Das Reden fällt ihm immer schwerer, er hört sich selber zu wie einer Tonbandaufnahme, wenn er wie unter Zwang die Schrecken der Vernichtung in ihrem unverminderten Grauen schildert, die niemand hören will, die niemand erträgt. Trost findet er nur in einer Ausgrabungsstätte in Sobibor, wo er das Einzige tut, was für ihn Sinn ergibt, Knochensplitter, das, was von den Ermordeten übrig geblieben ist, zur Ruhe zu betten.
Seine letzte Aufgabe ist es, einen Dokumentarfilmer zu begleiten, einen Deutschen, der einen Juden braucht, „einen, der aussieht wie ein Jude“, um ein wenig Gegenwart in die Erinnerungskultur hineinzubringen. Er treibt ihn mit der Kamera vor sich her, „als hielte er in meinem Rücken ein Gewehr in Anschlag“, erteilt Regieanweisungen wie Befehle und konfrontiert den Erzähler herrisch mit seiner eigenen abwegigen Deutung des Holocaust, bis dieser ausrastet.
Oft wird der Erzähler nach den Schlüssen gefragt, die aus der Schoah zu ziehen sind. Für die Jugendlichen bedeutet es, nie wieder Opfer sein, es bedeutet Stärke und keinen Augenblick der Schwäche zuzulassen. Für den Ich-Erzähler gibt es nur die Erfahrung, die er nicht aussprechen muss, weil er sie lebt: Wer sich dem Monster nähert, bleibt nicht derselbe. Das Ungeheuer lässt sich nicht bewältigen und durch keine Erinnerungskultur instrumentalisieren.