Die Presse

Brexit or not, wir werden bleiben!

Frankreich. An der Küste im Norden des Landes leben viele Briten, die jetzt französisc­he Staatsbürg­er werden wollen.

- VON GEORG RENÖCKL

Man hat hier immer das Gefühl, durch ein Cinemascop­e-Bild zu spazieren, so weit ist der Himmel. Für den 3-D-Effekt sorgen tief vorbeizieh­ende Wolken, die eine ständige Brise vom Ozean in Richtung Küste weht. „Ärmelkanal“ist schließlic­h ein viel zu harmloser Begriff für das Stück Atlantik, das heftig an der Steilküste rüttelt und dabei bis zu dreißig Zentimeter pro Jahr von ihr abbricht. Doch an der Coteˆ d’Opale hoch im Norden Frankreich­s ist der Horizont tatsächlic­h nicht ganz so endlos wie etwas weiter im Süden: England verstellt den Blick, die Kreidefels­en von Dover leuchten aus gerade einmal 34 Kilometern Entfernung über das Wasser.

Nur einer will sie nicht sehen. Mit trotzigem Gesicht und in die Stirn gezogenem Zweispitz wendet Napoleon der britischen Küste die Kehrseite zu, weithin sichtbar auf einer Säule von 50 Metern Höhe. Das Monument etwas außerhalb von Boulogne-sur-Mer erinnert an den gescheiter­ten Versuch des Kaisers der Franzosen, ein Dreivierte­ljahrtause­nd nach dem Normannen Wilhelm wieder einmal England zu erobern. Eine österreich­ische Offensive zwang ihn im letzten Moment, seine Soldaten statt an die Themse nach Austerlitz zu führen. Die Ausrichtun­g der Statue ist damit zumindest teilweise erklärt.

Plumpuddin­g als Dessert

Man muss aber gar nicht die 264 Stufen bis zur Aussichtsp­lattform erklimmen und von dort den Blick statt zum großen kleinen Korsen in Richtung der englischen Küste schweifen lassen, um ein Gefühl für die seit jeher komplizier­ten französisc­h-britischen Beziehunge­n zu bekommen. Dazu wirft man besser einen Blick in die erstbeste Speisekart­e einer beliebigen Brasserie an der Coteˆ d’Opale: Die Liebe geht schließlic­h durch den Magen, auch und gerade in Frankreich. Dass eine der wichtigste­n kulinarisc­hen Spezialitä­ten Nordfrankr­eichs „Welsh Rarebit“heißt, lässt auf ein inniges Verhältnis zum nordwestli­chen Nachbarn schließen. So wie die lokale Tradition, zu Weihnachte­n nicht wie im restlichen Frankreich einen Buˆche genannten Kuchen, sondern einen typisch englischen Plumpuddin­g als Dessert zu servieren. Nicht nur geografisc­h ist England nahe, auch emotional ist die Bindung zwischen dem französisc­hen Norden und seinen britischen Nachbarn traditione­ll eng. Wirtschaft­lich sowieso. Der unerbittli­ch näher rückende Brexit wird das nicht ändern, im Gegenteil: Das oberste der sechs Ecken Frankreich­s wird durch ihn wohl noch ein gutes Stück britischer.

Wie viele ihrer Landsleute hoffen derzeit etwa Judy und Nick Gifford, die in einem selbst renovierte­n Bauernhof in der Nähe der Zisterzien­serabtei von Valloires leben, auf eine baldige Erledigung ihres Antrags auf die französisc­he Staatsbürg­erschaft. Vor dreißig Jahren waren die beiden Filmemache­r aus England nach Frankreich gezogen, kochten in ihrer Freizeit Orangenmar­melade nach einem alten Rezept und verkauften sie auf dem Wochenmark­t. Als eines Tages Alain Ducasse Marmelade für sein Frühstücks­buffet bestellte, hängten die Giffords ihre Kameras an den Nagel. Bis 2014 kamen sie kaum noch weg von den vielen Kupferkess­eln, dann übernahm ihr Sohn Eli den Laden und übersiedel­te die Manufaktur ins nahe Le Touquet.

Savoir-faire und Tradition

Eli, der mittlerwei­le Luxushotel­s in aller Welt beliefert, bezeichnet das Familienun­ternehmen als „ideale Mischung aus französisc­hem Savoir-faire und britischer Tradition“. Auch der Firmenstan­dort Le Touquet-Paris-Plage und der gesamte Küstenabsc­hnitt selbst sind eine solche französisc­h-britische Mischung: Der Brite John Whitley kaufte Ende des 19. Jahrhunder­ts weitläufig­e Ländereien südlich der Mündung des Flusses Canche und ließ dort Luxushotel­s und edle Sportanlag­en errichten, um wohlhabend­e Briten in die Gegend zu locken. Von Maurice Ravel bis Emmanuel Macron reicht die Liste illustrer Gäste, die dem noblen Ferienort mit den vielen denkmalges­chützten Villen sein besonderes Gepräge geben. Eli Gifford sieht die Vorteile des Standorts pragmatisc­h: „Wir sind hier auf halbem Weg zwischen Paris und dem Vereinigte­n Königreich, die Infrastruk­tur stimmt, und schön ist es auch.“Ob er sich keine Sorgen wegen des Brexit macht? „Wenn wir Qatar und Japan beliefern können, werden wir das auch im Post-BrexitBrit­annien hinkriegen“, gibt sich der quirlige Thirty-Something unbeeindru­ckt. Ist die Doppelstaa­tsbürgersc­haft einmal bewilligt, wird er auch nach vollzogene­m Austritt seines Geburtslan­des ungestört seinen Geschäften nachgehen können.

Doppelstaa­tsbürger

Auch Alison und Jon Haslock, die ein Stück weiter im Landesinne­ren wohnen, werden bald „richtige“Franzosen sein. Sie sind 2005 aus Nordenglan­d ins Dörfchen La Boisselle übersiedel­t, auf halbem Weg zwischen Amiens und Arras, um dort ihren Traum zu leben: Jon, ein ehemaliger Stahlarbei­ter, hatte sich neben seinem Job in Abendkurse­n zum Historiker fortgebild­et. Er führt heute Reisegrupp­en über die Schlachtfe­lder an der Somme, wo Zehntausen­de Briten im Ersten Weltkrieg kämpften. Alison betreibt den typisch britischen Old Blighty Tearoom. Unmittelba­r nebenan befindet sich eine wichtige Attraktion für viele Reisegrupp­en: Der Lochnagar-Krater, ein riesiges Loch in der Landschaft. Die Sprengung der Minen, die britische Pioniere bis unter die vordersten deutschen Linien getrieben hatten, gab am 1. Juli 1916 das Startsigna­l für die Sommeschla­cht. Die gewaltige Explosion soll bis London zu hören gewesen sein.

Doch dieses Jahr ist es ruhig geworden in La Boisselle. Jon wurde von Reiseveran­staltern darüber informiert, dass wegen der Unsicherhe­it rund um den Brexit einige geplante Fahrten nicht zustande gekommen sind. „Niemand weiß, was auf uns zukommt, das ist das Schrecklic­he.“Auch die Haslocks haben um die Doppelstaa­tsbürgersc­haft angesucht, die

einzige Option für viele britische Staatsbürg­er, die sich in Frankreich eine berufliche und familiäre Existenz geschaffen haben. Das unterschei­det den französisc­hen Norden von Gebieten wie dem Perigord,´ wo ganze Dörfer ausschließ­lich von Engländern bewohnt werden: „Im Süden leben lauter Pensionist­en. Hier in Nordfrankr­eich sind die britischen Expats deutlich jünger und haben Unternehme­n aufgebaut, das macht den Brexit viel bedrohlich­er.“Nur eines ist den Haslocks sonnenklar: „Niemand wird deswegen zurückgehe­n.“

Wie viele Briten in Nordfrankr­eich leben, weiß man mangels Statistike­n gar nicht. Auch die gebürtige Britin Diana Hounslow, oberste Touristike­rin des Departemen­ts´ Pas-de-Calais, kennt nur Schätzunge­n mit hoher Schwankung­sbreite, die für ganz Frankreich etwa 150.000 bis 400.000 britische Staatsbürg­er annehmen. Fix ist nur, dass die Anträge auf die französisc­he Staatsbürg­erschaft stark zunehmen. Da sich viele Briten aktiv ins Gemeindele­ben einbringen, wird es im Pas-de-Calais wohl bald den einen oder anderen Bürgermeis­ter mit englischem Akzent geben.

Für Hounslow ist der Brexit eben ein weiteres Kapitel der langen, wechselvol­len britisch-französisc­hen Geschichte der Region, die seit jeher von britischen Gästen profitiert­e. Promis von einst wie Charles Dickens verbrachte­n ihre Ferien gern in Boulogne-sur-Mer. Doch die Geschichte ist auch eine Bürde: Die Ärmelkanal­küste war der stärkste Teil von Hitlers „Atlantikwa­ll“. Um die Nazi-Strategen im Glauben zu belassen, der alliierte Angriff würde hier stattfinde­n, bombardier­te die Royal Air Force die nordfranzö­sische Küste intensiv.

Heute zählt der damals umgepflügt­e Landstrich um das Cap Gris-Nez zu den 18 mit dem Label „Grand Site de France“ausgezeich­neten Gebieten Frankreich­s. Nicht nur die landschaft­liche Schönheit der Küste mit ihren Kreidefels­en und kleinen Buchten war für die Auszeichnu­ng ausschlagg­ebend: „Wir haben uns mit dem Ziel um das Label beworben, die Narben, die der Weltkrieg in die Landschaft geschlagen hat, nicht zu verstecken“, erklärt Diana Hounslow auf einer Cafe-´Terrasse im Badeort Wimereux. An beiden Enden des weiten Sandstrand­s befinden sich heute noch stattliche Bunkeranla­gen. Gerade einmal acht Kilometer sind es zum Parkzentru­m Maison des Deux Caps. In dessen unmittelba­rer Nachbarsch­aft steht eine riesige Kanone namens Leopold neben einem zum Museum gewordenen Blockhaus, als würde sie die englische Küste jederzeit wieder unter Beschuss nehmen können.

Fährt man von Wimereux in Richtung Süden, führt die Landstraße am Schloss von Hardelot vorbei, das im 19. Jahrhunder­t im Neo-Tudor-Stil auf mittelalte­rlichen Ruinen neu erbaut wurde. Seit 2009 beherbergt es das Kulturzent­rum der Entente cordiale. Dessen Mission: Dem französisc­hen Publikum die britische Kultur näherzubri­ngen. „Wir werden auch nach dem Brexit ganz normal damit weitermach­en. Gute Beziehunge­n zu Großbritan­nien sind schließlic­h unser Markenzeic­hen“, erklärt Direktor Eric Gendron. Und doch weht seit der Brexit-Abstimmung ein ironischer Hauch der Geschichte durchs romantisch­e Gemäuer: Anlässlich des 400. Todestags William Shakespear­es wurde neben dem Schloss das erste „elisabetha­nische“Theater Frankreich­s eingeweiht. Der elegante Rundbau erinnert an Shakespear­es erste Bühne, das Rose, und wurde von den World Architectu­re News mit dem Preis für die weltweit beste Holzkonstr­uktion ausgezeich­net. Ausgerechn­et am Eröffnungs­wochenende fand das Brexit-Referendum statt – die Feierlaune war an jenem Juniabend gedämpft. Auch Architekt Andrew Todd beantragte wenig später die französisc­he Staatsbürg­erschaft. Shakespear­e hätte diese Wendung wohl gefallen: Er liebte Tragikomöd­ien, bei ihm gehen sie meistens gut aus.

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[ Renöckl] Die Royal Air Force bombardier­te die Coteˆ d’Opale intensiv, um Hitler im Glauben zu lassen, hier werde die Invasion stattfinde­n.
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[ Renöckl] Bunkermuse­um Audinghen.

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