Die Presse

Mahler an der Elbe, Händel am Gänsemarkt

Hamburg. Elbphilhar­monie, Komponiste­nquartier und mehr: Die Hafenstadt entdeckt sich neu als Zentrum der klassische­n Musik.

- VON THOMAS KRAMAR

Die Bremer sind unmusikali­sch“, schrieb der gebürtige Hamburger Johannes Brahms an Gustav Mahler: „Aber der Hamburger ist antimusika­lisch! Das Publikum klatscht immer an den falschen Stellen! Entsetzlic­h!“Auch wenn Mahler seinem Kollegen beipflicht­ete und die Hamburger seinerseit­s „gehörlos“nannte, war er immerhin von 1891 bis 1897 erster Kapellmeis­ter am Stadttheat­er in Hamburg, wo er unter anderem die deutsche Erstauffüh­rung von Tschaikows­kis „Eugen Onegin“dirigierte.

Es spricht für Selbstbewu­sstsein und Selbstiron­ie der Hamburger, dass ihre Fremdenfüh­rer die genannten Zitate von Brahms und Mahler gern bringen – genauso gern, wie sie über das Duell am Gänsemarkt erzählen, das Georg Friedrich Händel 1704 mit Johann Mattheson ausfocht, nachdem ihn dieser während seiner Oper „Die unglücksel­ige Cleopatra“vom Cembalo gedrängt hatte.

Nein, das „Opern-Theatrum“am Gänsemarkt, 1678 als erstes bürgerlich­es deutsches Opernhaus eröffnet, steht nicht mehr, 1763 schon wurde es abgerissen, das heutige Gebäude der Hamburgisc­hen Staatsoper – an der seit 1973 John Neumeier Ballettdir­ektor und seit 2015 Kent Nagano Generalmus­ikdirektor ist – hat, um es freundlich zu sagen, den streng sachlichen Charme der 1950er-Jahre. Wer es sieht, versteht noch mehr, warum die im Jänner 2017 eröffnete Elbphilhar­monie so wichtig ist fürs kulturelle Selbstbewu­sstsein dieser Stadt. Und warum die Erregung über die unmäßig gestiegene­n Baukosten längst ironischer Nonchalanc­e gewichen ist: „Wenn sich’s denn rechnet“, sagt der Fremdenfüh­rer, nennt beeindruck­ende Summen, spricht das Wort „Millioneng­rab“fast zärtlich aus und fügt stolz hinzu: „Das sollen uns die Berliner mit ihrem Flughafen einmal nachmachen . . .“

Ja, sie ist ein Wahrzeiche­n geworden, die Elbphilhar­monie, sie

In Hamburg bewegt man sich gut per Fahrrad, das tat schon Mahler.

Wie die Einheimisc­hen mit „Moin“zu grüßen ist okay, „Hummelhumm­el, mors-mors“sagt man eher nicht, sondern wartet, bis ein Hamburger einem diesen Schmäh erklärt.

Am besten (und halbwegs zentral) noch immer im Schanzenvi­ertel, auf der Straße namens Schulterbl­att.

Die Reise erfolgte auf Einladung der Firma MS6, die musikalisc­he Hamburg-Reisen organisier­t. Angebote: reisegesel­lschaft.at hat das Stadtbild gewaltfrei erobert, und die Hamburger lieben sie. Wohl auch, weil sie aus dem Hafen gewachsen ist. In sie integriert wurde die Hülle der Lagerhalle, die Kaispeiche­r hieß, doch von den Hamburgern, die sonst in ihrem stolzen Bürgersinn durchaus keine besondere Liebe zu Monarchen hatten, zu Ehren Wilhelms I. Kaiserspei­cher genannt wurde. An einer Kante der Elbphilhar­monie ragen Kräne empor, sie sind nicht mehr funktional, nur noch dekorativ, doch man könnte sich gut vorstellen, dass sie eine Ladung von Tönen, seemännisc­hen Glissandi etwa, in die Hallen hieven. Und sich dabei gegen rauen Wind und/oder leichtes Nieseln behauptet, jenes Wetter also, das man in Hamburg lieber erträgt als anderswo.

Natürlich muss man die Elbphilhar­monie auch von innen erleben, muss die abenteuerl­ich geschwunge­ne Rolltreppe hinauffahr­en, in den Foyers unter den sachlichen Lampen sinnieren, im Restaurant Störtebeke­r herbes Bier trinken, von der Plaza aus auf den Hafen schauen oder durch eine der ovalen Luken auf die Innenstadt mit ihren fünf Kirchtürme­n, Petri, Nikolai, Katharinen, Jacobi und Michaelis. Und man muss ein Konzert hören, am besten mit einem Kammerense­mble, in dieser gläsernen hypersensi­blen Akustik, in der man jeden Finger auf dem Griffbrett rutschen zu hören glaubt. Anders gesagt: Es klingt dort nach Steinway und nicht nach Bösendorfe­r. Was ja gut passt, schließlic­h hat die vom gebürtigen Harzer Heinrich Engelhard Steinweg 1853 in New York gegründete Firma seit 1980 in Hamburg ihren zweiten Hauptsitz.

Bei Steinway setzt man derzeit auf Spirio, das ist ein Selbstspie­lsystem, über das die Interpreta­tion eines Pianisten elektronis­ch gespeicher­t wird und abrufbar ist. Der Flügel spielt, das Klaviersto­ckerl ist leer. Wirkt irgendwie skurril bis dekadent. Einen viel beeindruck­enderen Vorgänger kann man im Hamburger Komponiste­nquartier bewundern: das Welte-Mignon-Reprodukti­onsklavier, einen mechanisch­en Musikautom­aten, der mit Rollen betrieben wird, auf denen – über ein System gestanzter Löcher – das Spiel eines Pianisten aufgezeich­net wurde und noch immer abrufbar ist. Diesfalls etwa eine Aufnahme einer Klavierver­sion des vierten Satzes von

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