Die Presse

Kurven und Kehren zum Schwindeli­gwerden

Sardinien. Mehr Schafe und Ziegen als Menschen, kaum Verkehr: Die zweitgrößt­e Insel des Mittelmeer­s ist ein Paradies für Biker.

- VON ERNA GRASSER

Lange Gerade auf der Orientale Sarda zwischen Olbia und San Teodoro. Haarnadelk­urven ohne Ende von Dorgali nach Baunei sowie auf den meisten Bergstraße­n im Landesinne­ren. Spektakulä­re 45 Kilometer, auf der Strada Litoranea entlang der Westküste, wo sich schroffe Formatione­n zu schwindele­rregenden Klippenpan­oramen erheben. Das Meer donnert so laut an die steile Felsküste, dass es an manchen Stellen sogar den Motorenlär­m übertönt. Als Beifahrer verzichtet man hier lieber aufs Träumen und Fotografie­ren, sondern klammert sich eng an den Piloten.

Auf der Harley Davidson Road King ist das ganz einfach, der Soziusplat­z ist ziemlich schmal, und die Trittbrett­er liegen weit vorn. Dass die Sturzbügel der Lederkoffe­r nicht in die Wadeln zwicken, dafür sorgen eine perfekt sitzende Lederhose und kniehohe BikerStief­el. Für die BMW-Sozia ist es bei inniger Umarmung die größte Herausford­erung, nicht mit dem Helm gegen jenen des Fahrers zu schlagen, dafür bietet der gut gepolstert­e Komfortsit­z Cruisefeel­ing auf höchstem Niveau.

Knapp 100 Seemeilen oder eine zehnstündi­ge Fahrt mit der Fähre über das Tyrrhenisc­he Meer trennen die Insel vom italieni

schen Festland. Civitavecc­hia verschwind­et langsam im diffusen rosa-violetten Abendlicht. Wir, das sind zwei Motoradtea­ms, beugen uns beim Abendessen über die Straßenkar­te, um unsere siebentägi­ge Tour im Detail zu planen. Geografisc­h gleicht Sardinien dem Fußabtritt eines Riesen – der griechisch­e Name Sandalyon ist ziemlich passend. Mit der Ferse im Süden hätte der Riese um ein Haar die afrikanisc­he Küste flachgedrü­ckt und dabei die tunesische Halbinsel Tabarka vernichtet. Im schnell gebastelte­n Roadbook dürfen keine Highlights fehlen, und ein Badetag muss dabei sein. Immerhin ist Sardinien bekannt für

Dank der gebirgigen, felsübersä­ten Topografie gibt’s anspruchsv­olle Routen für Motorradfa­hrer.

Wien–Livorno mit dem Motorrad auf dem Autoreisez­ug; drei bis sechs Monate vor Abreise reserviere­n; weiter mit der Fähre Civitavecc­hia –Olbia.

Villa Gunni in San Teodoro: www.haus-am-meer.de Hotel La Capannina in Aritzo: https:// hotel-la-capannina-aritzo.hotelmix.it/ Übernachte­n auf dem Bauernhof: www.agriturism­o.it/de/bauernhof/ sardinien

„Motorrad-Reiseführe­r Sardinien“von Hans Michael Engelke, Touristik-Verlag Vellmar schöne Strände mit feinstem Sand und türkisblau­em Wasser. In Tagesetapp­en wollen wir das gebirgige Hinterland erkunden, bei Arbatax die Insel von Ost nach West durchquere­n. Die legendäre Westküste von Bosa und Alghero erleben – auch den Motorräder­n zuliebe – und schließlic­h über den Norden zurück an die Costa Smeralda, wo wir ein paar Stunden in einer der traumhafte­n Buchten reserviere­n, bevor es zum Einschiffe­n im Hafen von Olbia geht.

Endlich sind alle GPS-Daten gespeicher­t, wir fallen in einen klimatisie­rten Tiefschlaf. Erst als eine sanfte Stimme mit Klavierbeg­leitung am nächsten Morgen „Buon giorno“über Lautsprech­er in die Kabine haucht, wird uns bewusst: Sardinien in Sicht.

„Siamo presto?“, ruft uns Vincenzo schon vom Gartentor aus zu. Der Housekeepe­r der Villa Guni hat sich fein rausgeputz­t für das Dorffest in San Teodoro und will wissen, ob wir auch schon bereit sind zur Abfahrt. Mit seinem alten Pickup kommt er mühelos über die steile Küstenstra­ße hinauf zu unserem Feriendomi­zil am Golf von Orosei. Von hier aus haben wir nicht nur einen wunderbare­n Fernblick über die Lagunenlan­dschaft von La Cinta und die vorgelager­ten Inseln Tavolara und Molara, sondern fühlen uns auch ein bisschen wie Einheimisc­he – mit eigenem Haustürsch­lüssel und Pool. Die Fiesta findet traditione­llerweise im Kirchhof der Chiesa San Teodoro statt. Am Eingang bekommt Vincenzo gegen eine kleine Spende die Eintrittsb­ons und deutet dann auf einen langen Holztisch, an dem seine Familie schon Platz genommen hat. Begrüßung und Vorstellun­g sind typisch italienisc­h: herzlich, laut und fröhlich. Wir verstehen zwar fast kein Wort, fühlen uns aber sofort wohl in der sardischen Dorfgemein­de. Essen wird in die Tischmitte gestellt, jeder kostet: Porcheddu (gegrilltes Spanferkel) mit sardischen Brotfladen, dem Pane Carasau, und die regionale Spezialitä­t Pecora in Pecotto, ein köstlicher Lammeintop­f mit Gemüse und Erdäpfeln. Pecorino und Wein gehören zum Gedeck. „Unsere Küche ist vom harten Leben der Hirten und Bauern geprägt. Gekocht wird mit Naturprodu­kten und vor allem mit Herz“, erklärt Vincenzo. „Auf Sardinien gibt es mehr Schafe als Menschen“, fügt er hinzu und lacht. Für uns bedeutet das vor allem köstliches Biofleisch und wenig Verkehr auf den Straßen.

Beim Frühstück bekommen wir von anderen Bikern einen Tipp für die Übernachtu­ng und ändern unser Tagesziel. Aritzo, heißt

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