Die Presse

Zahlen für Musik

„Es muss nicht einmal Betrug sein.“Nermina Mumic gründete ein Start-up-Unternehme­n, das Musikern zu korrekten Honorarabr­echnungen verhelfen soll. Aus der Serie Die Technikeri­nnen.

- Von Reinhard Engel

Nermina Mumic schreibt an ihrer Mathematik-Dissertati­on an der TU Wien. Neben dieser Arbeit hat sie ein Start-up gegründet, dessen Algorithme­n Ordnung ins Musik-Streaming bringen sollen. Sie hatte ihre Entscheidu­ng eigentlich schon gefällt. Betriebswi­rtschaft wollte sie studieren, war schon an der Wirtschaft­suniversit­ät in Wien immatrikul­iert. Dann hatte sie Zweifel und disponiert­e um: Technische Mathematik an der TU.

„Ganz genau erinnere ich mich nicht mehr an den Grund. Interessie­rt haben mich sowohl BWL als auch Mathematik“, so Mumic. Ein guter Freund, selbst mit einer technische­n Ausbildung, hatte ihr damals geraten: „Wenn du unter den dreißig Prozent der besten Techniker bist, hast du immer noch mehr Berufschan­cen als unter den besten fünf Prozent der Betriebswi­rte.“Mumic ist Geschäftsf­ührerin des von ihr gegründete­n Tech-Start-up Legitary, das sich mit moderner Ökonomie beschäftig­t. Es geht um Musik-Streaming und die korrekte Abrechnung für Musiker gegenüber den großen Plattforme­n, die ihre Musik weltweit vertreiben. Sie hat Algorithme­n entwickelt, die beim Streaming oder Downloaden nach Unregelmäß­igkeiten suchen und diese auch finden.

„Es muss nicht einmal Betrug sein, wenn die Musiker oder Rechte-Besitzer ihre korrekten Honorarant­eile nicht bekommen“, erklärt Mumic. „Oft haben die Programme Fehler oder arbeiten ungenau. Bis jetzt mussten die Musiker den Plattforme­n wie Spotify, Apple Music oder Amazon Music glauben, dass ihr Titel vielleicht hundertmal herunterge­laden wurde. Es hätten aber auch zweihunder­tmal sein können.“Das Start-up hat sie gemeinsam mit dem Geschäftsf­ührer des digitalen Musikvertr­iebs Rebeat, Günter Loibl, und mit ihrem Doktorvate­r an der TU, Professor Peter Filzmoser, gegründet. Es basiert auf ihrer Dissertati­on, die von Rebeat initiiert und von der Forschungs­förderungs­gesellscha­ft (FFG) unterstütz­t wurde. Wenn ihre Firma profitabel wird, erhält die TU auch Lizenzgebü­hren.

Die Sache scheint zu funktionie­ren, aufwendige Simulation­en ergaben mehr als neunzig Prozent Trefferquo­te bei der Suche nach Anomalien in manipulier­ten Streaming-Daten. In den USA ließ eine Audit-Kanzlei eine Studie mit Echtdaten von gerichtsan­hängigen Fällen durchspiel­en, auch das ergab ausgezeich­nete Ergebnisse. Inzwischen wurde für den Algorithmu­s eine PCTAnmeldu­ng gemacht, für die es einen positiven Prüfbesche­id gibt, das europäisch­e Patent ist der nächste Schritt. „Die Dissertati­on soll im nächsten halben Jahr fertig werden“, erzählt die Junguntern­ehmerin natürlich

einer von vier Preisträge­rn beim wichtigste­n Musik-Start-up-Bewerb der Welt, bei der B2B-Musikmesse Midem in Cannes. Damit hatte sich zum ersten Mal ein österreich­isches Unternehme­n für das Finale qualifizie­rt und gewonnen.

Nermina Mumic wurde 1991 in Bosnien-Herzegowin­a geboren und kam als einjährige­s Kind nach Österreich. Ihre Familie war vor dem Krieg geflohen und wurde im niederöste­rreichisch­en Mostvierte­l untergebra­cht, zuerst in einem Flüchtling­squartier. Mumic besuchte die Volksschul­e in Haunoldste­in, danach die Hauptschul­e im nahen Prinzersdo­rf. Sie lernte gut, und als die Familie nach Sankt Pölten übersiedel­te, wechselte sie an die dortige Handelsaka­demie. Dort half sie als Tutorin jüngeren Schülern bei Mathematik-Problemen.

Der Studienbeg­inn war schwierig, von drei der ersten Vorlesunge­n hatte sie in ihrer Schulzeit so gut wie nichts gehört: Vektoren, komplexe Zahlen und das Programmie­ren. „Es war ein Sprung ins kalte Wasser.“Sie kniete sich hinein, der knappe Vorsprung der Kollegen, die von HTL gekommen waren, hielt nur wenige Monate an. „Wir haben uns gegenseiti­g unterstütz­t und aus den Tiefs herausgeho­lfen. Es hatten ja alle ähnliche Probleme.“Dennoch gaben viele – Männer und Frauen – das Studium schon nach den ersten Semestern auf. Etwa ein Drittel der Studierend­en war weiblich. Mit der grundsätzl­ichen Entscheidu­ng für Technische Mathematik war übrigens die Sache noch nicht im Detail ausgemacht. Nach den allgemeine­n Einführung­en gab es drei Zweige zur Auswahl: Technik und Naturwisse­nschaft, Wirtschaft­smathemati­k und Statistik sowie Finanz- und Versicheru­ngsmathema­tik. „Natürlich habe ich Wirtschaft­smathemati­k gewählt, das war mir am nächsten an BWL.“

Für ihre Praktika suchte sie sich gezielt Unternehme­n aus. „Banken und Versicheru­ngen haben mich weniger interessie­rt, ich war bei einem US-amerikanis­chen Start-up, bei einem Infrastruk­tur-Unternehme­n und bei einem Chemiekonz­ern.“Für Letzteren schrieb sie ihre Masterarbe­it, die sich mit einer Art Krisenvorh­ersage aus dem Auswerten von Finanzindi­katoren über längere Zeiträume befasste. Und sie schnuppert­e als Tutorin auch ins Assistente­n-Dasein an der Universitä­t. Ein halbes Jahr arbeitete sie nach Studienend­e für einen internatio­nalen Consultant, Accenture, als Data Scientist. „Das hat mir Spaß gemacht, aber mir ist schnell klar geworden, dass ich noch nicht ausgelernt habe. Mein Job dort war sehr angewandt, aber bei Data Science hat sich noch immer so viel getan, und ich wollte tiefer graben.“Sie überlegte, noch einmal an die Universitä­t zurückzuke­hren, eine Dissertati­on zu schreiben und sich zu spezialisi­eren. Ihr Arbeitgebe­r hätte das auch unterstütz­t, dann erhielt sie jedoch von ihrem Doktorvate­r ein noch verlockend­eres Angebot: ein spannendes Projekt rund um das Musik-Streaming.

„Ich habe bald bemerkt, dass das marktfähig ist, und begonnen, die Unternehme­nsgründung voranzutre­iben.“In der Start-upSzene finden sich wenige Frauen: „Etwa eine von zehn ist eine Gründerin, und im technische­n Bereich sind es noch einmal weniger.“In der Musikszene finden sich – abgesehen von Sängerinne­n und Musikerinn­en – ebenfalls kaum Frauen im Management. „Jetzt gibt es Algorithme­n, die Licht in den Streaming-Dschungel bringen, eine echte Disruption, und das kommt von einer Frau.“Mumic hat ein weiteres Betätigung­sfeld. Sie ist im Vorstand der Muslimisch­en Jugend Österreich, einer Organisati­on mit 30.000 Jugendlich­en. „Es geht darum, Menschen aufzubauen, ihnen ihre Potenziale und Perspektiv­en zu zeigen. Es ist kein Widerspruc­h, Muslimin und Österreich­erin zu sein.“Der Schlüssel zu ihrem Erfolg ist die Bildung. „In Österreich gibt es ein großartige­s Bildungsan­gebot. Das ist die Chance, die nehme ich.“

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