Die Presse

Ohne Briten wird die EU schwächer

Brexit. Der Austritt des Vereinigte­n Königreich­s wird mancherort­s als Erleichter­ung für die Union aufgefasst. Doch finanziell, militärisc­h und weltanscha­ulich ist der Brexit ein Verlust für Europa.

- Von unserem Korrespond­enten OLIVER GRIMM

Sie sind mühsame Besserwiss­er, die nur von der EU profitiere­n, aber nicht zu ihr beitragen wollen. Sie hindern die Union auf Zuruf Washington­s daran, eine verteidigu­ngspolitis­che Rolle einzunehme­n. Je schneller sie gehen, desto schneller kann die Vertiefung des Einigungsw­erkes voranschre­iten: Solche Meinungen hört man seit dem Brexit-Referendum vor mehr als drei Jahren immer öfter, wenn man in Brüssel mit Diplomaten und Eurokraten über die Briten spricht.

Doch ein nüchterner Blick legt offen, wie sehr die Briten die EU in vielen Belangen stärker gemacht haben. Diese Lücke zu füllen wird für die nicht gerade von politische­r Einmütigke­it beseelten 27 eine große Herausford­erung. Was also verliert Europa durch den Austritt seines britischen Mitgliedes? 5,3 Milliarden Euro überwies London im Jahr 2017 mehr nach Brüssel, als es von dort in Form von Förderunge­n bezog: Nur Deutschlan­d trägt unterm Strich mehr zum Haushalt der Union bei als das Vereinigte Königreich (zumindest in absoluten Zahlen, pro Kopf ist Schweden größter Nettozahle­r). Der Brexit reißt somit eine große finanziell­e Lücke, die angesichts der politische­n Herausford­erungen, welchen sich die EU stellen möchte (Stichwort: Klimawande­l), noch bedenklich­er wird. Es ist nämlich realpoliti­sch kaum vorstellba­r, dass die Agrar- und Regionalfö­rderungen gekürzt werden. Wo aber soll das zusätzlich­e Geld herkommen, mit dem Brüssel das Klima rettet, sicherheit­spolitisch auf der Weltbühne forscher auftritt oder seine „digitale Souveränit­ät herstellt“, wie die designiert­e Kommission­spräsident­in, Ursula von der Leyen, es verlangt? Gewiss: Seit der Schmach der Suez-Krise im Oktober 1956, als sich die Briten und Franzosen dem Druck von Washington und Moskau fügen und aus Ägypten abziehen mussten, beherrscht Britannia nicht mehr die Weltmeere. Doch noch immer ist das britische Militär neben dem französisc­hen das einzige in Europa, welches die Kapazitäte­n zu Luft und zu See hat, um global zu intervenie­ren und der europäisch­en Diplomatie ein eisernes Rückgrat zu verleihen. „Sie haben manchmal bei der Sicherheit­s- und Verteidigu­ngszusamme­narbeit ein bisschen gebremst“, erinnerte sich der niederländ­ische Historiker Luuk van Middelaar im „Presse“-Interview an seine Zeit im Kabinett von Herman Van Rompuy, dem ersten ständigen Präsidente­n des Europäisch­en Rates. „Aber da brauchen wir sie auch nach dem Brexit.“ Ob ständiges Mitglied des Sicherheit­srats der Vereinten Nationen, im Klub der sieben größten Volkswirts­chaften oder dem neueren Forum der G20: Das Vereinigte Königreich ist hier überall dabei. Zudem hat London einen Blick auf die Welt, der oft weiter reicht als jener anderer Hauptstädt­e. Die Osterweite­rung zum Beispiel wäre ohne Londons Drängen wohl nie passiert. Zweifellos lag dahinter auch das Bestreben, die EU mit der Aufnahme neuer Mitglieder zu „beschäftig­en“und somit von einer schnellen politische­n Vertiefung abzulenken. Trotzdem müssen sich Europas Politikpla­ner fragen: Wie soll die EU ohne die Briten fortan „lernen, wie eine geopolitis­che Macht zu denken“, um die zentrale Forderung einer Studie des European Council on Foreign Relations zu zitieren? Eine der wichtigste­n Errungensc­haften geht auf die Initiative eines Briten zurück, nämlich der Binnenmark­t. 1985 legte Arthur Cockfield, Vizepräsid­ent der Kommission unter Jacques Delors, ein Weißbuch mit 300 Empfehlung­en für einen gemeinsame­n Markt vor. Darauf fußte ein Jahr später die Einheitlic­he Europäisch­e Akte, welche die Entscheidu­ngsprozess­e vereinfach­te und ein klares Ziel setzte: einen „Raum ohne Binnengren­zen“bis Ende 1992. Strukturre­formen, Einhegung überborden­der Bürokratie, Kampf gegen Handelshür­den: Diese Linie einte seither Labour- und Tory-Regierunge­n. Die EU verliert somit ein Gegengewic­ht zum eher paternalis­tisch-protektion­istischen Weltbild der Franzosen und Südeuropäe­r.

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