Ohne Briten wird die EU schwächer
Brexit. Der Austritt des Vereinigten Königreichs wird mancherorts als Erleichterung für die Union aufgefasst. Doch finanziell, militärisch und weltanschaulich ist der Brexit ein Verlust für Europa.
Sie sind mühsame Besserwisser, die nur von der EU profitieren, aber nicht zu ihr beitragen wollen. Sie hindern die Union auf Zuruf Washingtons daran, eine verteidigungspolitische Rolle einzunehmen. Je schneller sie gehen, desto schneller kann die Vertiefung des Einigungswerkes voranschreiten: Solche Meinungen hört man seit dem Brexit-Referendum vor mehr als drei Jahren immer öfter, wenn man in Brüssel mit Diplomaten und Eurokraten über die Briten spricht.
Doch ein nüchterner Blick legt offen, wie sehr die Briten die EU in vielen Belangen stärker gemacht haben. Diese Lücke zu füllen wird für die nicht gerade von politischer Einmütigkeit beseelten 27 eine große Herausforderung. Was also verliert Europa durch den Austritt seines britischen Mitgliedes? 5,3 Milliarden Euro überwies London im Jahr 2017 mehr nach Brüssel, als es von dort in Form von Förderungen bezog: Nur Deutschland trägt unterm Strich mehr zum Haushalt der Union bei als das Vereinigte Königreich (zumindest in absoluten Zahlen, pro Kopf ist Schweden größter Nettozahler). Der Brexit reißt somit eine große finanzielle Lücke, die angesichts der politischen Herausforderungen, welchen sich die EU stellen möchte (Stichwort: Klimawandel), noch bedenklicher wird. Es ist nämlich realpolitisch kaum vorstellbar, dass die Agrar- und Regionalförderungen gekürzt werden. Wo aber soll das zusätzliche Geld herkommen, mit dem Brüssel das Klima rettet, sicherheitspolitisch auf der Weltbühne forscher auftritt oder seine „digitale Souveränität herstellt“, wie die designierte Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, es verlangt? Gewiss: Seit der Schmach der Suez-Krise im Oktober 1956, als sich die Briten und Franzosen dem Druck von Washington und Moskau fügen und aus Ägypten abziehen mussten, beherrscht Britannia nicht mehr die Weltmeere. Doch noch immer ist das britische Militär neben dem französischen das einzige in Europa, welches die Kapazitäten zu Luft und zu See hat, um global zu intervenieren und der europäischen Diplomatie ein eisernes Rückgrat zu verleihen. „Sie haben manchmal bei der Sicherheits- und Verteidigungszusammenarbeit ein bisschen gebremst“, erinnerte sich der niederländische Historiker Luuk van Middelaar im „Presse“-Interview an seine Zeit im Kabinett von Herman Van Rompuy, dem ersten ständigen Präsidenten des Europäischen Rates. „Aber da brauchen wir sie auch nach dem Brexit.“ Ob ständiges Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, im Klub der sieben größten Volkswirtschaften oder dem neueren Forum der G20: Das Vereinigte Königreich ist hier überall dabei. Zudem hat London einen Blick auf die Welt, der oft weiter reicht als jener anderer Hauptstädte. Die Osterweiterung zum Beispiel wäre ohne Londons Drängen wohl nie passiert. Zweifellos lag dahinter auch das Bestreben, die EU mit der Aufnahme neuer Mitglieder zu „beschäftigen“und somit von einer schnellen politischen Vertiefung abzulenken. Trotzdem müssen sich Europas Politikplaner fragen: Wie soll die EU ohne die Briten fortan „lernen, wie eine geopolitische Macht zu denken“, um die zentrale Forderung einer Studie des European Council on Foreign Relations zu zitieren? Eine der wichtigsten Errungenschaften geht auf die Initiative eines Briten zurück, nämlich der Binnenmarkt. 1985 legte Arthur Cockfield, Vizepräsident der Kommission unter Jacques Delors, ein Weißbuch mit 300 Empfehlungen für einen gemeinsamen Markt vor. Darauf fußte ein Jahr später die Einheitliche Europäische Akte, welche die Entscheidungsprozesse vereinfachte und ein klares Ziel setzte: einen „Raum ohne Binnengrenzen“bis Ende 1992. Strukturreformen, Einhegung überbordender Bürokratie, Kampf gegen Handelshürden: Diese Linie einte seither Labour- und Tory-Regierungen. Die EU verliert somit ein Gegengewicht zum eher paternalistisch-protektionistischen Weltbild der Franzosen und Südeuropäer.