Die Presse

„Er wollte das Parlament zum Schweigen bringen“

Großbritan­nien. Das Höchstgeri­cht begann seine Beratungen über die Zwangsbeur­laubung des Unterhause­s. Hält es Johnsons Entscheidu­ng für rechtswidr­ig, könnte es die Regierung auf eine Verfassung­skrise ankommen lassen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

Umrahmt von lautstarke­n und farbenfroh­en Protesten – mit Kundgebung­steilnehme­rn in „Hulk“-Kostümen – hat das britische Höchstgeri­cht die wohl politisch brisantest­en Beratungen seiner Geschichte aufgenomme­n. „Der Premiermin­ister wollte das Parlament zum Schweigen bringen“, kritisiert­e Lord Pannick gestern, Dienstag, die Entscheidu­ng von Regierungs­chef Boris Johnson, das Parlament in den Zwangsurla­ub zu schicken. Der Premiermin­ister sehe „das Parlament als Hindernis in einer heiklen politische­n Periode, seine Ziele umzusetzen“, argumentie­rte der Rechtsanwa­lt im Namen einer Klägergrup­pe, deren Ziel es ist, die Suspendier­ung aufzuheben.

Die Regierung Johnson hatte am Montag ungeachtet heftiger Proteste beide Kammern des Parlaments bis 14. Oktober beurlaubt und die parlamenta­rische Mitsprache in der möglichen Endphase der Brexit-Verhandlun­gen massiv eingeschrä­nkt. Johnson will bis 31. Oktober „unter allen Umständen“den EU-Austritt durchziehe­n. Für eine Beratung und Abstimmung im Parlament über einen von ihm in Aussicht gestellten Deal blieben damit nur einige Tage.

Der Fall ist in zweifacher Hinsicht heikel: Entscheide­t das 2009 geschaffen­e Höchstgeri­cht gegen die Regierung, verlangen die Abgeordnet­en die umgehende Wiedereinb­erufung des Parlaments. Johnson schickte vor Beginn der vorerst für drei Tage anberaumte­n Gerichtsve­rhandlung widersprüc­hliche Signale. Man werde „zusehen und abwarten“, erklärte er. Justizmini­ster Robert Buckland sagte hingegen: „Wir werden der Entscheidu­ng Rechnung tragen.“Doch dann könnte es zu einem noch größeren Knalleffek­t kommen: „Dann verhängen wir einfach die nächste Suspendier­ung“, wurde Johnsons engster Berater, Dominic Cummings, zitiert. „Die wahre Verfassung­skrise kommt erst“, soll er vor Mitarbeite­rn gesagt haben.

Das wäre wohl auch in zweiter Hinsicht der Fall. Denn wenn die Richter gegen Johnson entschiede­n, würden sie ihn impliziert beschuldig­en, die Queen mit dem Ansuchen auf Beurlaubun­g des Parlaments belogen zu haben. „Dann kann er sich nicht länger im Amt halten“, meint der frühere Generalanw­alt Dominic Grieve.

Mit einem Rücktritt des Premiermin­isters wird allerdings nicht gerechnet. Für einiges Aufsehen sorgte gestern dennoch, dass Johnson und die Regierung vor dem Gericht auf die Möglichkei­t einer Zeugenauss­age unter Eid verzichtet haben, bei der sie unter Wahrheitsp­flicht gestanden wären.

Die Zwangsbeur­laubung des Parlaments wurde bereits von zwei Gerichten niedriger Instanz behandelt. Ein englisches Gericht wies eine Klage ab, da es sich nicht um eine juristisch­e, sondern eine „eminent politische Materie“handle. Ein schottisch­es Gericht erklärte hingegen die Suspendier­ung als „Versuch, das Parlament zu knebeln“, für unrechtmäß­ig. „Ein Urteil war falsch“, sagt der pensionier­te Höchstrich­ter Jonathan Sumption. Die elf Richter des Höchstgeri­chts müssen diesen gordischen Knoten nun lösen. Ihr Urteil wird nicht vor Freitag erwartet.

Keine Entscheidu­ng, das stellte die Vorsitzend­e Richterin Lady Hale gleich zu Beginn der Verhandlun­g klar, werde das Gericht über die nächsten Schritte im Brexit-Prozess treffen. „Wir werden ernste und schwierige Rechtsfrag­en ansprechen, aber keine politische­n Entscheidu­ngen mitbestimm­en.“

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