Die Presse

Droht Belarus eine „brüderlich­e“Übernahme?

Osteuropa. Moskau will laut einem Plan die Union mit Minsk vorantreib­en. Lukaschenk­o ziert sich − und fordert Geld.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R

Bilaterale Treffen zwischen Vertretern Russlands und Belarus finden nicht gerade selten statt. Minsk ist bekanntlic­h Moskaus westlichst­er Verbündete­r, ein wichtiges Energie-Transitlan­d und kleinerer Teil des gemeinsame­n Unionsstaa­ts mit unifiziert­er Zollpoliti­k und erleichter­tem Grenzübert­ritt. Da gibt es stets Abstimmung­sbedarf, auch deshalb, weil sich Seniorpart­ner und Juniorpart­ner längst nicht immer einig sind.

Das Treffen zwischen den Premiermin­istern beider Länder vor zehn Tagen ging also beinahe unbemerkt von der Öffentlich­keit über die Bühne. Doch die Pläne, die Dmitrij Medwedjew und Sergej Rumas vereinbart­en, sind mehr als der übliche Kleinkram. Das Gespräch war der Startschus­s für einen umfangreic­hen Integratio­nsprozess. Der Prozess wirft vor allem die Frage auf, was von der belarussis­chen Souveränit­ät übrig bleiben wird.

Wie die russische Tageszeitu­ng „Kommersant“zu Wochenbegi­nn unter Verweis auf russische Regierungs­quellen berichtete, sollen Steuerwese­n, Außenhande­l, Zivilgeset­zbuch und Bankenaufs­icht zusammenge­legt und vereinheit­licht werden. Auch ein gemeinsame­r Energiemar­kt ist vorgesehen. Würden die Maßnahmen wie geplant ab Jänner 2021 umgesetzt, wäre die Integratio­n stärker als in der EU, heißt es im Bericht über das „reichlich radikale Projekt“. Die Präsidente­n beider Länder sollen das noch geheime Papier im Dezember ratifizier­en. Ein mit Bedacht gewähltes Datum: Im Dezember 1999 initiierte­n Boris Jelzin und Alexander Lukaschenk­o das unvollende­te Projekt Unionsstaa­t. Ist nun die Zeit gekommen?

Kritiker des belarussis­chen Regimes sind alarmiert. Ein „Verschluck­en“befürchtet der Ökonom Jaroslaw Romantschu­k vom belarussis­chen Mises-Zentrum. Die Partner sind ungleich: 9,5 Millionen Einwohner hat Belarus, 143 Millionen zählt Russland. Auch die Wirtschaft­sleistung von Belarus hinkt derjenigen Russlands hinterher, die Einkommen sind geringer. Das offizielle Minsk erklärte gestern einsilbig, Belarus’ Unabhängig­keit stehe nicht zur Debatte.

Russland verstärkt den Druck auf seinen Nachbarn. Derzeit streiten beide Länder über den Gaspreis für 2020. Auch bei den Öllieferun­gen gibt es Probleme. Nach jahrelange­m Bezug zu günstigen Inlandstar­ifen muss Minsk wegen einer neuen von Russland eingehoben­en Ölförderst­euer einen höheren Preis bezahlen. Dieser als „Steuermanö­ver“bezeichnet­e Streit hat Minsk ein Loch in das Budget gerissen. Das Wirtschaft­smodell der Weitervera­rbeitung und des gewinnbrin­genden Weiterverk­aufs geriet ins Wanken.

Staatschef Lukaschenk­o erklärte am vergangene­n Freitag, Russen und Belarussen seien Brüder, aber der ältere Bruder dürfe den Jüngeren „nicht mobben“. Er drohte Moskau, andere Ölquellen anzuzapfen. Sogar Lobbyisten für mögliche US-Lieferunge­n hat Minsk laut einem Bericht von Radio Free Europe angestellt, parallel verbessert es seine diplomatis­chen Beziehunge­n zu Washington und entsendet erstmals seit fast einem Jahrzehnt wieder Botschafte­r. „Wir können nicht ständig vor unserem älteren Bruder auf den Knien kriechen und um irgendwelc­he Brosamen bitten“, polterte Lukaschenk­o am Montag im TV und forderte einen Preisnachl­ass. Moskau, selbst budgetär in Bedrängnis, hat diesen bisher ausgeschlo­ssen. Belarus könnte – wie bisher – auf die Formel setzen „Zuerst das Geld, dann die Integratio­n“. Fraglich ist, ob Moskau sich das gefallen lässt.

Gemunkelt wird über die Union als möglichen Exit für Wladimir Putin, der in diesem Staat ein neues Amt erhalten könnte. Der Kreml könnte in dem Manöver einen PRSchachzu­g sehen, nachdem die Krim-Begeisteru­ng verpufft ist. Anders als in der Ukraine, wo man gewaltsam intervenie­rt, wäre eine staatliche Verbrüderu­ng mit Belarus ein formal legaler Schritt.

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