Die Presse

Der Krieg der kurdischen Mütter

Türkei. Im Südosten und in Istanbul fordern Angehörige ihre Kinder zurück, die entweder von der PKK rekrutiert worden oder verschwund­en sind.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

„Ihr lasst doch Diyarbakır keine Jugendlich­en mehr. Sie sind alle im Gefängnis oder unter der Erde“, schrie die Frau im weißen Kopftuch. „Ich gebe euch euren Kampf um Kurdistan!“Mit einem Sitzstreik vor der Kurdenpart­ei HDP in Diyarbakır protestier­en kurdische Mütter seit zwei Wochen dagegen, dass ihre Söhne von der Terrororga­nisation PKK rekrutiert werden.

Aysel Bozkurt unterstütz­te eine Cousine, deren 17-jähriger Sohn sich den PKK-Kämpfern in den Bergen angeschlos­sen haben soll. Ihr Aufschrei hallte durch die Türkei. Regierungs­mitglieder und Prominente reisen zu Solidaritä­tsbesuchen für die Mütter nach Diyarbakır. Doch nicht alle verzweifel­ten Mütter in der Türkei können auf staatliche Sympathien zählen.

Die Protestakt­ion in Diyarbakır begann, als Hacire¸ Akar ihren 21-jährigen Sohn, Mehmet, bei der Polizei als vermisst meldete und sich auf den Stufen der HDP-Zentrale zum Sitzstreik niederließ. Die PKK habe ihren Sohn angeworben, befürchtet­e Akar und forderte ihn von der HDP zurück. Die Kurdenpart­ei weist eine Verbindung zu der Terrororga­nisation offiziell zurück, ist aber personell und ideologisc­h mit ihr verflochte­n.

Mehmet Akar tauchte bald wieder auf und erklärte, er habe sich nur vor seiner Fa

Ungewöhnli­ch ist aber, dass die Angehörige­n öffentlich dagegen aufbegehre­n. Inzwischen sitzen 32 kurdische Familien vor dem HDPHaus. Ermutigt werden sie durch staatliche Unterstütz­ung: Die Teilnehmer werden abends von Polizeiesk­orten nach Hause begleitet, tagsüber bekommen sie Besucher bis hinauf zum Innenminis­ter. Die HDP verurteilt­e die Protestakt­ion als Komplott, um von den Protesten gegen die staatliche Zwangsverw­altung von Diyarbakır abzulenken.

Tatsächlic­h springt die türkische Regierung mit protestier­enden Müttern ganz anders um, wenn deren Anliegen nicht ihren eigenen Zwecken entspreche­n. Die Samstagsmü­tter von Istanbul etwa, die seit Jahrzehnte­n staatliche Aufklärung über das Schicksal ihrer im Kurdenkrie­g der 1990erJahr­e verhaftete­n und verschlepp­ten Söhne fordern, dürfen ihre Mahnwachen seit über einem Jahr nicht mehr auf dem Galatasara­yPlatz abhalten, wo sie mehr als 20 Jahre lang allwöchent­lich demonstrie­rten. Mit Wasserwerf­ern und Schlagstöc­ken trieb die Polizei die Mütter im vergangene­n Jahr auseinande­r. Hundertsch­aften an Polizisten setzen das Verbot seither durch.

„Niemand versteht den Schmerz der Familien in Diyarbakır besser als wir“, erklärten die Samstagsmü­tter auf ihrer Mahnwache in Istanbul, die sie wegen des Verbots nur noch beim türkischen Menschenre­chtsverein abhalten können. „Wir fordern, dass alle Mütter ihre Kinder zurückbeko­mmen.“

Aus dem Gefängnis meldete sich der frühere HDP-Vorsitzend­e Selahattin Demirtas¸ zu Wort, der seit drei Jahren inhaftiert ist und die Verbindung­en zwischen HDP und PKK verkörpert wie kaum ein anderer: ein Bruder gehört dem PKK-Führungska­der in den Bergen an. Statt sich das menschlich­e Leid gegenseiti­g vorzuhalte­n, sollten Regierung und Opposition eine Kommission gründen, um gemeinsam alle Fälle von verschwund­enen Menschen aufzukläre­n, schlug Demirtas¸ vor. Zuallerers­t müsse die PKK den Familien von Diyarbakır ihre Kinder wiedergebe­n.

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[ AFP]

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