Der Krieg der kurdischen Mütter
Türkei. Im Südosten und in Istanbul fordern Angehörige ihre Kinder zurück, die entweder von der PKK rekrutiert worden oder verschwunden sind.
„Ihr lasst doch Diyarbakır keine Jugendlichen mehr. Sie sind alle im Gefängnis oder unter der Erde“, schrie die Frau im weißen Kopftuch. „Ich gebe euch euren Kampf um Kurdistan!“Mit einem Sitzstreik vor der Kurdenpartei HDP in Diyarbakır protestieren kurdische Mütter seit zwei Wochen dagegen, dass ihre Söhne von der Terrororganisation PKK rekrutiert werden.
Aysel Bozkurt unterstützte eine Cousine, deren 17-jähriger Sohn sich den PKK-Kämpfern in den Bergen angeschlossen haben soll. Ihr Aufschrei hallte durch die Türkei. Regierungsmitglieder und Prominente reisen zu Solidaritätsbesuchen für die Mütter nach Diyarbakır. Doch nicht alle verzweifelten Mütter in der Türkei können auf staatliche Sympathien zählen.
Die Protestaktion in Diyarbakır begann, als Hacire¸ Akar ihren 21-jährigen Sohn, Mehmet, bei der Polizei als vermisst meldete und sich auf den Stufen der HDP-Zentrale zum Sitzstreik niederließ. Die PKK habe ihren Sohn angeworben, befürchtete Akar und forderte ihn von der HDP zurück. Die Kurdenpartei weist eine Verbindung zu der Terrororganisation offiziell zurück, ist aber personell und ideologisch mit ihr verflochten.
Mehmet Akar tauchte bald wieder auf und erklärte, er habe sich nur vor seiner Fa
Ungewöhnlich ist aber, dass die Angehörigen öffentlich dagegen aufbegehren. Inzwischen sitzen 32 kurdische Familien vor dem HDPHaus. Ermutigt werden sie durch staatliche Unterstützung: Die Teilnehmer werden abends von Polizeieskorten nach Hause begleitet, tagsüber bekommen sie Besucher bis hinauf zum Innenminister. Die HDP verurteilte die Protestaktion als Komplott, um von den Protesten gegen die staatliche Zwangsverwaltung von Diyarbakır abzulenken.
Tatsächlich springt die türkische Regierung mit protestierenden Müttern ganz anders um, wenn deren Anliegen nicht ihren eigenen Zwecken entsprechen. Die Samstagsmütter von Istanbul etwa, die seit Jahrzehnten staatliche Aufklärung über das Schicksal ihrer im Kurdenkrieg der 1990erJahre verhafteten und verschleppten Söhne fordern, dürfen ihre Mahnwachen seit über einem Jahr nicht mehr auf dem GalatasarayPlatz abhalten, wo sie mehr als 20 Jahre lang allwöchentlich demonstrierten. Mit Wasserwerfern und Schlagstöcken trieb die Polizei die Mütter im vergangenen Jahr auseinander. Hundertschaften an Polizisten setzen das Verbot seither durch.
„Niemand versteht den Schmerz der Familien in Diyarbakır besser als wir“, erklärten die Samstagsmütter auf ihrer Mahnwache in Istanbul, die sie wegen des Verbots nur noch beim türkischen Menschenrechtsverein abhalten können. „Wir fordern, dass alle Mütter ihre Kinder zurückbekommen.“
Aus dem Gefängnis meldete sich der frühere HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas¸ zu Wort, der seit drei Jahren inhaftiert ist und die Verbindungen zwischen HDP und PKK verkörpert wie kaum ein anderer: ein Bruder gehört dem PKK-Führungskader in den Bergen an. Statt sich das menschliche Leid gegenseitig vorzuhalten, sollten Regierung und Opposition eine Kommission gründen, um gemeinsam alle Fälle von verschwundenen Menschen aufzuklären, schlug Demirtas¸ vor. Zuallererst müsse die PKK den Familien von Diyarbakır ihre Kinder wiedergeben.