Die Presse

Reise des Jazz in die Freiheit, Station Qu´ebec

Soundtrack. 1964, ein halbes Jahr vor „A Love Supreme“, hat John Coltrane einige Stücke für einen kanadische­n Arthouse-Film eingespiel­t, die erst jetzt veröffentl­icht werden. Interessan­t, aber keine Sensation.

- VON THOMAS KRAMAR

Die Jazzbranch­e ist und bleibt im Modus des Rückblicks auf ihre verstorben­en Großen: Gerade erst ist ein – eher zweifelhaf­tes – Album von Miles Davis (1926–1991) erschienen, im Juni 2018 wurde mit „Both Directions at Once“ein „verlorenes Album“von John Coltrane (1926–1967) herausgege­ben. Nun kommt „erneut ein komplett unveröffen­tlichtes Coltrane-Werk“, so die Aussendung der Plattenfir­ma. Das mag im strengen Wortsinn stimmen, die sieben Aufnahmen auf „Blue World“waren bisher unbekannt, es ist aber doch ein bisschen übertriebe­n. Denn ein kompaktes Werk bilden sie nicht, geschweige denn, dass sie als Album geplant gewesen wären. Immerhin interessan­t ist ihre Entstehung: als Soundtrack für „Le chat dans le sac“, einen Film von Gilles Groulx aus Quebec,´ Kanada. Dieser war ein großer Coltrane-Fan, fühlte sich der Nouvelle Vague des Films zugehörig – Coltranes Alben erschienen damals übrigens unter dem Motto „The New Wave of Jazz Is on Impulse!“–, dachte vielleicht auch an den Miles-Davis-Soundtrack von Louis Malles Film „Fahrstuhl zum Schafott“(1958). Es hat Groulx selbst überrascht, dass der meist verschloss­ene Coltrane ihm zusagte, dies hat wohl auch damit zu tun, dass schwarze Jazzmusike­r in Kanada weniger Rassismus erleben mussten als in den USA.

John Coltrane versammelt­e jedenfalls sein Quartett, das noch nicht legendär, aber bestens eingespiel­t war, und nahm (natürlich in den Van-Gelder-Studios) einfach fünf Stücke auf, die damals, in der Zeit vor seinem spirituell­en Meisterwer­k „A Love Supreme“(aufgenomme­n im Dezember 1964) in seinem Repertoire waren: „Naima“, sein beseeltes Liebesbeke­nntnis für seine erste Frau, das er, in immer verzückter­er Form, fast bis zu seinem Tod spielen sollte, den „Village Blues“, „Traneing In“(mit einem fast dreiminüti­gen Basssolo Jimmy Garrisons), das vom bodenständ­igeren Kollegen Sonny Rollins inspiriert­e „Like Sonny“.

Das Titelstück „Blue World“stellt sich als Improvisat­ion über „Out of This World“heraus, einem u. a. von Ella Fitzgerald interpreti­erten Song von Harold Arlen und Johnny Mercer, der schon im Original irgendwie entrückt klingt und bei Coltrane, getragen vom majestätis­chen, im Wesentlich­en um zwei Akkorde kreisenden Klavierspi­el McToy Tyners, zu einer rastlosen Meditation wird. Das wäre eine Entdeckung – hätte Coltrane ihn nicht schon 1962 unter dem Originalti­tel mit seinem Quartett aufgenomme­n, und zwar in einer längeren, intensiver­en Version. Sie findet sich auf einem Album mit dem schlichten Namen „Coltrane“, das jeder kennen sollte, der sich für dieses Saxofonist­en große Reise in den Freejazz begeistert.

Auch die Aufnahmen für „Le chat dans le sac“mögen ein Steinchen auf dieser Reise sein. Ein Meilenstei­n sind sie nicht.

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